Die Gebärden, die man in Wörterbüchern der Gebärdensprache findet, sind die am meisten konventionalisierten oder lexikalisierten. Dies sind die Gebärden, die Ihnen gezeigt werden, wenn Sie nach der Gebärde für etwas fragen; z.B. «Was ist die Gebärde für Tisch?», «Was ist die Gebärde für Politik?» Diese Gebärden haben eine stabile Grundform, und haben eine klare Bedeutung, auch wenn sie ausserhalb des Kontextes eines Satzes verwendet werden. Die Gebärde AUTO in Abb. 4 ist eine lexikalisierte Gebärde, bei der die Komponenten der Parameter nicht verändert werden können. Die Gebärden werden in der Forschung deshalb auch als «eingefrorenes Lexikon» bezeichnet.  Es gibt einige lexikalisierte Gebärden, bei denen ein oder zwei Komponenten geändert werden können, um eine genauere Bedeutung zu erhalten. So können zum Beispiel Übereinstimmungsverben wie SAGEN, FRAGEN, EINLADEN die Parameter Bewegung und Ausführungsstelle modifiziert (oder flektiert) werden, um anzuzeigen, wer die Handlung des Verbs ausführt und wer sie empfängt.    

Die Formen der lexikalisierten Gebärden, die in Wörterbüchern zu finden sind, sind die Zitatform, die als Grundform der Gebärde angesehen wird. Eine Grundform gilt als ’nicht-markiert› im Gegensatz zu nicht so typischen Formen, die als ‹markiert› gelten.

In der gesprochenen und gebärdeten Sprache verwenden die Menschen drei grundlegende Arten der Kommunikation – Beschreiben, Zeigen, und Darstellen.

 

  • Die Beschreibungsmethode verwendet konventionalisierte Symbole für das, worüber sie sprechen. In gesprochenen Sprachen sind dies gesprochene oder geschriebene Wörter. In Gebärdensprachen sind es die vielen konventionalisierten (oder lexikalisierten) Gebärden in ihrem Wortschatz. (Z.B. die Gebärden APFEL, MANN, DENKEN).

  • Das Zeigen auf einen realen oder imaginären Punkt im Raum wird oft sprachlich verwendet, insbesondere, um deutlich zu machen, über welches Objekt oder welche Person (linguistische/r Referent:in, Referenzieren) man spricht. Diese Art und Weise, auf das zu verweisen, worüber man spricht, wird Deixis-Referenz genannt, wobei deiktisch so viel wie ‹auf etwas hinweisen› bedeutet.

  • Die visuelle Modalität dieser Sprache macht es jedoch sehr effizient, etwas direkt abzubilden oder darzustellen. Die Verwendung von visueller Bildhaftigkeit (Ikonizität) findet sich auf vielen Ebenen der Sprache, sowohl im Lexikon als auch in der Grammatik. Bei Gebärden (lexikalische Elemente) geschieht dies oft durch die Verwendung visueller Metaphern, bei dem ein Aspekt der visuellen Form der/des Referent:in verwendet wird, um für diesen/diese zu stehen. Zum Beispiel, eine Hand mit einer schalenförmigen Handform (C-Handform), die auf die andere Hand  mit einer flachen B-Handform gelegt wird, kann kommunizieren: «Ein kleiner Gegenstand wie ein Glas steht auf einem flachen Gegenstand wie einem Tisch». Die Verwendung visueller Metaphern ist auch in anderen Strukturen der Gebärdensprache zu beobachten, z. B. bei der Verwendung von Zeitlinien, um eine bestimmte Zeit im Verhältnis zu einer anderen Zeit zu zeigen. Eine andere Form des «Darstellens» ist das Erzählen aus der Teilnehmenden-Perspektive, eine Art Rollenspiel. Um darzustellen, was etwas ist, verwendet die Gebärdensprache bestimmte Bilderzeugungstechniken, die in allen Gebärdensprachen (und auch in den Gesten) zu finden sind.⁵

Sukzessive Komponenten der gesprochenen Sprache    

Bei all diesen Ähnlichkeiten in den Funktionen und einigen Strukturen der Gebärden- und der gesprochenen Sprache gibt es doch wichtige Unterschiede. Die meisten dieser Unterschiede ergeben sich aus der unterschiedlichen Modalität, in der die Sprachen wahrgenommen und produziert werden. Gesprochene Sprachen sind für eine akustische/orale Modalität strukturiert, während Gebärdensprachen für eine visuelle/körperliche Bewegungsmodalität strukturiert sind.

Gesprochene Sprachen werden mit Mechanismen des Mund- und Atmungsapparates produziert, was ihre Strukturen beeinflusst. Ihre wichtigsten Bedeutungseinheiten werden sukzessive produziert, eine nach der anderen, in den Einheiten der Wörter und Wortteile (Morpheme). Siehe das Beispiel in Abb. 1.

Abb. 1: Aufeinanderfolgende Komponenten in einem gesprochenen Satz

Simultane Komponenten der Gebärdensprache

Wie die Lautsprachen setzen sich auch die Gebärden aus einem System von Basisbausteinen zusammen. Gebärdensprachen sind sehr multimodal, d. h. sie nutzen viele Kanäle, um sprachliche Informationen zu übermitteln.

Die Basisbausteine der Gebärdensprachen lassen sich in fünf gleichzeitig produzierte Parameter unterteilen: Handform, Handstellung, Ausführungsstelle, Bewegung und nicht-manuelle Komponenten, NMK (Form und Bewegung des Oberkörpers, des Kopfes, des Gesichts, des Mundes als Mundform oder Mundbild, sowie mit der Richtung des Blicks). Abbildung 2 zeigt die gleichzeitigen Parameter einer Gebärde. Die Veränderung der Komponenten dieser Parameter kann die Bedeutung der Gebärde verändern.

Abb. 2: Gleichzeitige Parameter als Bausteine der Gebärde.

Diese Parameter lassen sich in eine beschränkte Anzahl weiterer Komponenten unterteilen, deren Zusammensetzung von Sprache zu Sprache variiert.  Durch die Begrenzung der Zahl der Komponenten ist die Sprache leichter zu erlernen, nicht nur für Kinder. Der Deutschschweizerische Gebärdensprache steht zum Beispiel ein Set von Handformen zur Verfügung, das sich leicht von dem der Amerikanischen oder Italienischen Gebärdensprache unterscheidet. Die Ausführungsstelle bezieht sich auf den Ort, an dem die Gebärde ausgeführt wird, und zwar nicht nur am Körper selbst, sondern auch im dreidimensionalen Raum, in dem die Gebärdensprache gebildet wird. Anders als bei Pantomimen, die eine ganze Bühne als Raum nutzen können, bilden Anwender der Gebärdensprache praktisch alle Bewegungen in einem begrenzten Raum, dem sogenannten Gebärdenraum (Siehe Abb. 3)

Abb.3: Gebärdenraum (Bild: Katja Tissi)

Da Gebärdensprachen visuell wahrgenommen werden, können sie den dreidimensionalen Raum um den Gebärdenden herum für linguistische Zwecke nutzen, z. B. um bestimmte Orte im Raum (Locus/Loci) mit Personen oder Gegenständen zu assoziieren, über die man spricht. Die Richtung der Bewegung von einigen Gebärden zwischen diesen Orten im Gebärdenraum (z.B. Übereinstimmende Verben, Ortswechsel-Verben, Pfad-Verben, Produktive Verbformen) wird dann verwendet, um anzuzeigen, wer spricht oder wer wem etwas gibt (Agens und Objekt) oder von welchem Ort ein Objekt ausgeht oder wohin es sich bewegt. Eine frühe Studie ergab, dass es länger dauert, einzelne Gebärde zu produzieren als ein einzelnes Wort zu sprechen.⁴ Sie stellte jedoch auch fest, dass gebärdete Sätze in der Regel weniger Zeit als gesprochene Sätze mit dem gleichen Inhalt benötigen. Wie ist das möglich? Eine Erklärung liegt in den Unterschieden der Modalitäten, die von den beiden Sprachformen verwendet werden. Die Gebärden werden zwar nacheinander in Sätzen produziert, aber sie vermitteln auch viele sprachliche Informationen über ihre simultanen Komponenten.  Das visuelle System ist auf die Verarbeitung von gleichzeitigen Signalen zugeschnitten, während das auditive System der Lautsprache effizienter zwischen zeitlichen und sequenziellen Elementen unterscheiden kann (z.B. eine Abfolge von Wörtern). Deswegen ermöglicht die visuelle Modalität eine simultane Verwendung mehrerer Komponenten im dreidimensionalen Raum, was dazu beiträgt, dass die Nachteile des langsameren Produktionstempos für einzelne Gebärden ausgeglichen werden können. Diese Vorteile der visuellen Modalität werden bei der linguistischen Strukturierung von Gebärdensprachen oft genutzt.  Dies gilt auch für die Struktur von Sätzen (Syntax), die sowohl von gleichzeitigen Komponenten als auch von der Reihenfolge der Gebärden in einem Satz abhängt.

Die Grammatik der Gebärdensprachen weist einige Ähnlichkeiten mit allen menschlichen Sprachen auf, ob gesprochen oder gebärdet: Auf der grundlegendsten Ebene (Phonologie) sind sie aus einer begrenzten Anzahl von Bausteinen aufgebaut. Durch das Ersetzen einer dieser Grundeinheiten kann die Gebärde in eine andere Gebärde umgewandelt werden. Wenn Sie zum Beispiel nur die Handform und die Ausrichtung der Gebärde für Arzt ändern, wird daraus die Gebärde für Rom. Eine kleine Änderung in der Produktion einer Komponente, die nicht zu einer Änderung der Bedeutung der Gebärde führt, wird als phonetische Varianten bezeichnet. 

Diese kleineren Grundeinheiten, die für sich genommen in der Regel keine Bedeutung haben, werden zu grösseren Einheiten kombiniert, die eine Bedeutung haben (Morpheme).  Ein oder mehrere Morpheme bilden die lexikalischen Einheiten von Wörtern oder Gebärden. Der Satzbau (Syntax) der Sprache besteht darin, wie die Wörter/Gebärden in Phrasen, Klauseln und Sätzen kombiniert werden.  Es gibt  grammatikalische Regeln und Konventionen, wie diese Bausteine zu Einheiten mit Bedeutungen kombiniert werden. Sätze werden zu grösseren Diskurs-Einheiten zusammengefasst. Es gibt Regeln und Konventionen für die Strukturen all dieser verschiedenen Arten von linguistischen Einheiten. Wie bei gesprochenen Sprachen kann man nicht nur unverständlich, sondern auch falsch gebärden, wenn man gegen die Regeln und Strukturen der Gebärdensprache verstösst.

Diese Ähnlichkeiten aller Sprachen basieren wahrscheinlich auf der gemeinsamen menschlichen Kognition, dem Bedürfnis, sich mit anderen Menschen in Echtzeit zu unterhalten und auf dem Ergebnis, dass sie von kleinen Kindern erlernt werden können, die alle, ob gehörlos oder hörend, die gleichen Phasen der kognitiven Fähigkeiten durchlaufen, während sie ihre erste Sprache lernen, sei es eine gesprochene oder eine gebärdete Sprache.

Gebärdensprachen sind, wie gesprochene Sprachen, natürliche Sprachen, da sie an weitere Generationen weitergegeben werden (d.h. von Kindern erlernt werden können). Gebärdensprachen erfüllen auch eine Vielzahl von kommunikativen Funktionen. Man kann zum Beispiel nicht nur mit Freunden plaudern und Scherze machen, sondern auch lügen, Gefühle ausdrücken, komplexe Argumente vorbringen, technische Geräte beschreiben, formale Vorträge halten, in einem Vorstellungsgespräch Fragen stellen, Gedichte machen und beten.

Hier wird kurz beschrieben, welche linguistischen Strukturen für diese kommunikativen Funktionen verwendet werden. Diese Grundkonzepte gelten für alle Gebärdensprachen, die bisher erforscht worden sind. Da Gebärdensprachen auch in der Schweiz lange Zeit nicht als «echte Sprachen» anerkannt waren, wurden diese linguistischen Strukturen in der Vergangenheit nicht für die Gebärdensprachen verwendet. In den 1980er Jahren begannen die gehörlosen Gebärdenden in der Schweiz jedoch, richtig stolz auf ihre Sprachen zu werden und sich für ihre offizielle Anerkennung einzusetzen. Zur gleichen Zeit begann die Forschung an der Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS). Das Verständnis, wie diese linguistischen Konzepte auf DSGS anzuwenden sind, war wichtig für die Entwicklung mehrerer Forschungsprojekte zu dieser Sprache sowie für die Entwicklung von Ausbildungsprogrammen für DSGS-Lehrer/innen und Dolmetscher/innen.²

Twilhaar, J. N. & Van Den Bogaerde, B. (2016). Concise Lexicon for Sign Linguistics. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company

 

McKee, R. (2018). New Zealand Sign Language: A Reference Grammar. Wellington: Bridget Williams Books

Wir freuen uns über Ihre Kommentare, die Sie bitte per E-Mail an die Kontakt-Adresse senden. Bitte geben Sie an, wenn Sie bereits Gebärdende von DSGS oder einer anderen Gebärdensprache sind. Wir werden dann einen Termin für einen Videochat vereinbaren. Danke!

Das Projekt ist hauptsächlich durch Drittmittel finanziert. Ohne folgende Geldgeber hätte es nicht realisiert werden können:

  • Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB
  • Max Bircher Stiftung
  • Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS
  • und Privatperson

Katja Tissi (Projektleitung, DSGS-Inhalt, Inhalt/Strukturierung, Videoschnitt und Illustrationen)

Heidi Stocker (Übersetzung DSGS-Videos in Deutsche Schriftsprache und Inhalt/Strukturierung)

Penny Boyes Braem (Beraterin für Gebärdensprach-Linguistik und Inhalt/Strukturierung)

Sonja Dietschi (Deutsche Textbearbeitung)

Agnes Kolmer (Terminologie)

 

Diese Studierenden des HfH Studiengangs Gebärdensprachdolmetschen GSD 1821 haben mitgearbeitet:

Anja Buntschu

Sabrina Schuler

Sandra Weilenmann

Vera Wiesendanger

Wie bei einem Duden für eine gesprochene Sprache kann der/die Nutzer:in mit diesem Handbuch für DSGS sofort zu einem bestimmten Thema oder Begriff springen. Die Kapitel sind um Beschreibungen verschiedener grammatischer Themen herum organisiert. Wichtige Fachbegriffe werden im Glossar auf Deutsch beschrieben. Der Index verlinkt die Begriffe mit den Stellen in den Texten, an denen sie beschrieben werden, sowie mit dem Glossar.

 

Die Kapiteltexte enthalten DSGS-Videos, die das Thema des Kapitels beschreiben. Die deutschen Begleittexte sind Übersetzungen dieser Videos. Die kursiv gedruckten Texte enthalten Informationen, die zu den in den Videos gegebenen Informationen hinzukommen. Die Erörterung der Themen umfasst auch mehrere Videos mit DSGS-Beispielen, zusammen mit schriftlichen Glossierungen des in den Beispielen verwendeten Gebärdens und einer Übersetzung ins Schriftdeutsche. Videos und Texte können bei Aktualisierungen dieses Handbuchs geändert werden.

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