Aufgrund der Dreidimensionalität von Gebärdensprachen und ihrer visuell-gestischen Modalität lassen sich Informationen zu einem grossen Teil simultan vermitteln. Gebärdensprachen beinhalten aber auch lineare Elemente. Simultane und lineare Elemente werden auf spezifische Art und Weise miteinander kombiniert: Eine Aussage wird durch linear aufeinanderfolgende Einheiten gebildet. Jede dieser Einheiten wiederum setzt sich aus simultanen, also zeitgleich ausgeführten nichtmanuellen und manuellen Komponenten zusammen. So folgen sich simultan aufgebaute Elemente in linearer Abfolge.
In gesprochenen Sprachen werden gewisse Informationen der Kommunikation ebenfalls simultan vermittelt (Gesprochenes und Nicht-Gesprochenes oder ‚nonverbale’ Verhaltensweisen der Gesichts- und Handgesten); die einzelnen Wörter und Wortteile des Satzes jedoch sind linear angeordnet. In Gebärdensprachen ist der Anteil an Simultaneität viel grösser als dies bei Lautsprachen der Fall ist. In Lautsprachen ist die Abfolge von Wörtern und Wortteilen zudem recht genau festgelegt. In Gebärdensprachen besteht hier mehr Spielraum (s. Kapitel 3.20 und 3.30).
Das Prinzip, nach welchem Informationen in Gebärdensprachen angeordnet sind (Informationsstruktur), das Prinzip „Vom Allgemeinen zum besonderen Detail“ hat nichts mit physischer Grösse / Struktur zu tun. Das „Grosse / Allgemeine“ kann verstanden werden als der Rahmen, der Hintergrund oder der Kontext einer Erzählung oder Beschreibung, der zu Beginn aufgezeigt wird. Dies kann die Angabe des Themas sein, die Beschreibung der Situation oder des Ereignisses, des Ziels oder eines anderen wichtigen Aspekts einer Aussage. Nach dieser Einführung rücken detaillierte, spezifischere Informationen zu den beteiligten Personen, dem Ort des Geschehens, zum Wie usw. in den Fokus. Zum Abschluss wird oft noch einmal der Bogen zum grossen Ganzen / Allgemeinen geschlagen, zu dem zu Beginn eingeführten Kontext.
Die Informationsstruktur ist die Art und Weise, wie verschiedene Arten von Informationen in der Struktur des einzelnen Satzes und von Satzgruppen (Diskurs) ausgedrückt werden. Dazu gehören die Annahmen der Gebärdenden darüber, was die Diskursteilnehmenden bereits wissen (bekannte Informationen) und was sie noch nicht wissen (neue Informationen). In vielen Gebärdensprachen und gesprochenen Sprachen werden die bekannten Informationen in der Regel am Anfang des Satzes und die neuen Informationen am Ende des Satzes ausgedrückt.
Bei der Betrachtung der Informationsstruktur in Gebärdensprachen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diese Sprachen dreidimensional sind.
Dinge, Personen und Ereignisse werden im Gebärdenraum verortet und durch räumliche Bezüge zueinander in Beziehung gestellt. Die mit dem Körper erzeugten Aussagen wiederum werden über das Auge wahrgenommen. Die visuell-gestische Modalität der Gebärdensprachen hat Einfluss darauf, wie die zu vermittelnden Informationen in einem Satz oder Diskurs angeordnet werden (Informationsstruktur) und auf die Grammatik dieser Sprachen.
Die visuelle Wahrnehmung der Realität ermöglicht es Gebärdenden, einige Aspekte der realen Welt wie Zeitabläufe, Aussehen von Dingen und Personen sowie Handlungen nachzuahmen und nach bestimmten Regeln räumlich und visuell abzubilden.
Die Art und Weise, wie Informationen in DSGS strukturiert sind, in welcher Reihenfolge diese angeordnet werden, folgt dabei einem bestimmten Prinzip. Dieses Prinzip wird im Folgenden bezeichnet als „Vom Allgemeinen zum besonderen Detail“ oder „Vom Grossen zum kleinen Merkmal“ für Sätze, die physische Formen beschreiben: In einer Erzählung oder Beschreibung werden oft zuerst allgemeine Hintergrundinformationen vermittelt (bekanntes Wissen zur Herstellung des Kontextes) und dann folgen schrittweise spezifischere Informationen, wird auf Details fokussiert. Der Aufbau von Aussagesätzen folgt diesem Prinzip.
Es lassen sich Aussagesatz, Fragesatz und Aufforderungssatz (Befehl oder Wunsch) unterscheiden. In diesem Kapitel wird aufgezeigt, wie ein Aussagesatz gebildet wird. Wie aufeinanderfolgende Aussagen miteinander verbunden werden, wird in Kapitel 4 Aussagen verbinden erläutert.
Es gibt drei Möglichkeiten zu signalisieren, dass jetzt gleich eine Frage gestellt wird. Nachfolgend die unterschiedlichen einleitenden Formulierungen und entsprechende Beispiele dazu:
Einleitung ‚ICH FRAGE DICH‘:
Winken | ICH 1FRAGEN2 | IX-2 KÖNNEN IX-1 2HELFEN1
jn-?
2KOMMEN1 PROD-tragen || – 00:16-00:20
‚Ich habe eine Frage: Kannst du mir tragen helfen?‘
jn-?
Winken | ICH MÖGLICH SCHNELL | NACHHER 1IX2 BESPRECHEN || – 00:21-00:25
‚Ich habe eine Frage: Können wir das nachher kurz besprechen?‘
Anstelle dieser Einleitung (‚Ich habe eine Frage‘) kann auch ein Fragezeichen in die Luft gezeichnet werden. Diese Möglichkeit wird aber eher in höheren Registern (Referate, Workshops, formelle Anlässe) benutzt.
Einleitung: ‚BITTE‘:
Wird eine Frage auf diese Weise eingeleitet, so handelt es sich um eine Bitte beziehungsweise Aufforderung.
jn-?
Winken | BITTEN | IX-2 KÖNNEN IX-1 2HELFEN1 PROD-tragen || – 00:52-00:55
‚Kannst du mir bitte tragen helfen?‘
Dies ist eine höfliche und etwas formellere Einleitung einer Frage.
Einleitung ‚AUFMERKSAM-MACHEN‘:
Mit dieser einleitenden Formulierung soll jemanden an etwas erinnert, auf etwas aufmerksam gemacht werden im Sinne von ‚Ist dir bewusst, dass …?‘ ‚Du weisst, dass …?‘.
jn-?
Winken | WEISST-IX-2 | MORGEN SITZUNG ABSAGEN || – 01:02-01:08
‚Weisst du, dass die morgige Sitzung abgesagt wurde?‘
Die Frage zielt also auch darauf ab, zu informieren oder sich rückzuversichern.
Eine Frage (Ergänzungsfrage oder Entscheidungsfrage) wird oft durch eine dieser drei Formulierungen eingeleitet.
(g)
jn-?
WAS IX-2 MÖGEN ESSEN SPAGHETTI links ODER REISrechts |
jn-?
IXrechts IXlinks || – 00:05-00:11
‚Möchtest du Spaghetti oder Reis essen?‘
(f)
jn-?
IX-2 MÖGEN VELO ROTlinks GRÜNrechts IX(HF-B)rechts IX(Hf-B)links |
jn-?
GRÜNrechts IX(HF-B)rechts IX-2 || – 00:04-00:09
‚Möchtest du das rote oder das grüne Velo? Das grüne?‘
Die Frage ‘WELCHE?’ kann als lexikalisierte Gebärde (a) oder mit der Gebärde ‘PALM-UP(?)’ – beide begleitet vom Mundbild ‘welche’ – realisiert werden:
(a) WELCHE – 00:07-00:08
(b) WPALM-UP – 00:11-00:12
Dazu je ein Beispiel:
w-?
(c) WELCHE(Var.1) FARBE IX-2 LIEBLING IX-2 || – 00:08-00:11
‘Welche ist deine Lieblingsfarbe?’
w-?
(d) WPALM-UP(MB:welch) FARBEIX-2LIEBLINGIX-2 || – 00:11-00:14
‘Welche ist deine Lieblingsfarbe?’
Die Frage ‘WELCHE?’ offeriert zwei (oder mehrere) Wahlmöglichkeiten. Sie wird grundsätzlich nach denselben Regeln gebildet wie die Entscheidungsfragen und Ergänzungsfragen. Zusätzlich werden jedoch die Alternativen, welche zur Auswahl stehen, im Gebärdenraum platziert und mit nichtmanuellen Komponenten (Kopfstellung und Haltung des Oberkörpers) markiert.
Einige Beispiele dazu:
(e) HEUTE 1BEIDE2 RICHTUNG-NACH BERN MIT AUTO(Oberk: links)
jn-? jn-?
BAHN(Oberk: rechts) | WPALM-UP MÖGEN IX-2 IXrechts IXlinks || – 00:39-00:45
‚Möchtest du, dass wir beide heute mit dem Auto oder mit der Bahn nach Bern fahren?‘
Die Alternativen (‚AUTO‘ und ‚BAHN‘) werden links und rechts im Raum platziert. Der Wechsel der Stellung von Oberkörper und Kopf (links und rechts) ist identisch mit ‚oder‘.
w-?
(e) WAS 1BEIDE2 ARBEITEN ||
‘Was arbeiten wir zusammen?’ – 00:02-00:04
Die Frage wird knapp und sachlich formuliert.
w-?
(f) WAS 1BEIDE2 ARBEITEN INHALT WPALM-UP ||
‘Um was genau geht es bei unserer gemeinsamen Arbeit?’
Die Frage wird eindringlich vorgebracht, drückt eine gewisse Unsicherheit aus und verlangt nach mehr Informationen.
Im Folgenden werden die unterschiedlichen Möglichkeiten in Satzbeispielen gegenübergestellt:
jn-?
(c) HEUTE SITZUNG NEUN-UHR(mb:uhr) ! || – 00:01-00:03
‚Haben wir heute um neun Uhr Sitzung?‘
In diesem Beispiel wird die Frage dezent formuliert.
jn-?
(d) HEUTE SITZUNG NEUN(mb:uhr) WIRKLICH WPALM-UP || – 00:04-00:07
‚Stimmt es, dass wir heute um neun Uhr Sitzung haben?‘
Die Frage wird hier eindringlicher formuliert und verlangt nach einer Bestätigung.
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