Die horizontale Verortung (horizontale Ebene im Raum) dient dazu, eine Richtung, eine Route oder die Lage im Raum anzugeben (rechts-links, vorne-hinten usw.). Die gebärdende Person kann dabei unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Sie kann Anteil am Raum haben und selbst die Rolle eines/einer Referent:in übernehmen, einen/eine Referent:in also auf den eigenen Körper projizieren (Teilnehmenden-Perspektive). Das Ereignis wird «lebensgross» (aus der Teilnehmenden-Perspektive) dargestellt. Nimmt die gebärdende Person eine distanziertere Perspektive ein (Erzähl-Perspektive), so hat sie konzeptuell keinen Anteil am Raum. Die Strukturierung des Gebärdenraums spiegelt aber die tatsächlichen Positionen der Referent:innen, das Ereignis wird jedoch in verkleinertem Massstab wiedergegeben. Die beiden Perspektiven können kombiniert werden.

Horizontale Verortung –  Beispiel  1 (innen)

Folgendes Beispiel beschreibt eine Szene und ihre räumlichen Verhältnisse aus einer Teilnehmenden-Perspektive im Massstab 1:1. Die gebärdende Person kann die Szene selbst erlebt haben oder Erzähltes wiedergeben:

(a)

Erz:    ICH  HAUPT BAHNHOF  ICH   HIER  WARTEN  |  PROD(HB-Halle:geradeaus-lang ENGEL   PROD-hängen(Engel)  ||  Teiln:  PROD-schauen(zu Engel)  PROD-halten(Arm)-warten  |  Erz:  3KOMMEN1  POSS-1 FREUND 3KOMMENTeiln:  ICH  PROD-umarmen  ||

‘Ich warte in der Halle des Hauptbahnhofs und schaue zum Engel hoch, der an der Decke hängt. Da kommt (endlich) meine Freundin und wir umarmen uns.’

Video – 00:01-00:12

 

Horizontale Verortung –  Beispiel  2 (halb)

Eine distanziertere Perspektive wird durch die Kombination von Teilnehmenden-Perspektive (auch bekannt als Innenperspektive) und Erzähl-Perspektive (oder Ausssenperspektive) zum Ausdruck gebracht. Die räumlichen Positionen und Bezüge stimmen mit jenen der Realität überein, der Massstab ist jedoch ein anderer (etwa 1:10).

(b)

STRASSE ECKE-linksa (ndH:hold) IXa MIGROS IXa IXa:vis a vis:b IXb  RESTAURANT  | 1BEIDE2 1TREFFEN2 IX3b? ||

‘An der linken Strassenecke befindet sich die Migros, gegenüber davon ein Restaurant. Wollen wir uns dort treffen?’

Video – 00:01-00:24

 

Horizontale Verortung –  Beispiel 3 (aussen)

In der Erzähl-Perspektive nimmt die gebärdende Person eine noch grössere Distanz ein, sie selbst hat keinen Anteil am topografischen Raum. Sie verortet Positionen und Bezüge auf einer vor ihr ausgebreiteten horizontalen Landkarte. Der tatsächliche Standpunkt der gebärdenden Person liegt dabei in Körpernähe. In folgendem Beispiel ist dies die Schweiz, der Süden liegt entsprechend vorne im Raum, der Westen rechts und der Osten links.

(c)

ICH  WILL    ZUERST  BAHN  1RICHTUNG(gerade-vorne) a  ROM  IXDANN  WECHSELN  PROD-fliegen(Flug a:vorne-b:rechts)   aNACHb  AMERIKA   ||

‘Ich möchte zuerst mit dem Zug nach Rom fahren und von dort dann ein Flugzeug nach Amerika nehmen.’

Video – 00:01-00:07

Es gibt drei Techniken, um anwesende oder abwesende beziehungsweise abstrakte Referent:innen im topografischen Raum zu lokalisieren: Die horizontale Verortung, die vertikale Verortung und die globale Verortung.

(Beachte, dass Personalpronomen im Singular ebenfalls auf einer horizontalen Ebene angezeigt werden, was jedoch nichts mit dem topografischen Raum zu tun hat.)

Der Gebärdenraum wird dann als topografischer Raum bezeichnet, wenn die gebärdende Person die Vorstellung einer Landkarte (zweidimensional, vertikal oder horizontal) oder einer Weltkugel (dreidimensional) auf den Gebärdenraum projiziert und darauf die Referent:innen abbildet. Die Verortung der Referent:innen, ihre Beziehungen zueinander und die Grössenverhältnisse entsprechen den Positionen und Verhältnissen im tatsächlichen Ereignis. Die gebärdende Person kann aber den Massstab variieren und den Raum je nach Perspektive unterschiedlich strukturieren.

Referent:innen (siehe Kapitel 7) werden nicht immer mit dem ausgestreckten Zeigefinger im Raum verortet. Es ist möglich die Handform dem Objekt beziehungsweise einer Gruppe von Objekten mit ähnlichen Eigenschaften wie zum Beispiel ‘Gebäude’ anzugleichen. In folgenden Beispielen werden die Referent:innen durch solch klassifizierende Handformen repräsentiert:

 

(a) klassifizierende Handform für Haus

PROD-stehen(Haus)

Video – 00:22

 

(b) klassifizierende Handform für Frau

PROD-stehen(Frau)

Video – 00:24

 

(c) klassifizierende Handform für Auto

PROD-stehen(Auto)

Weil die Finger als Loki verwendet werden, sind Referent:innen eindeutig identifizierbar. Je nach begleitender Mimik, Bewegung und Handform beim Indexieren wird betont, ob exakt diese/r (!) spezifische Referent:in gemeint ist (a) oder aber dass Unsicherheit darüber besteht (b):

 

(a) Bezeichnung spezifische/r Referent:in durch:

den Finger greifen diese Mimik

ERSTENS-IX-3a(ndH-Daumen)  MAMA(dH)  |  ZWEITENS-IX-3b(ndH-Zeigefinger ndH)  PAPA(dH)   |  DRITTENS-IX-3c(ndH-Mittelfinger)  TOCHTER(dH)   |  VIERTENS-IX-3d(ndH-Ringfinger)  HUND(dH)  |  FÜNFTENS-IX-3e(ndH-Kleiner Finger)  NACHBAR KIND(dH)   |  IX-3pla-e(dH:alle fünf)  FÜNF(ndH)  REISEN   ||

Video – 00:13-00:23

 

(b) Bezeichnung unspezifische/r Referent:in durch:

diese Mimik

FÜNFTENS-IX-3(ndH-Kleiner Finger)

Video – 00:24-00:27

Zur Aufzählung mehrerer Referent:innen können die Fingerspitzen der ndH als Loki dienen. Anschliessend kann durch das Antippen dieser ‘Platzhalter’ mit der dH auf die Referent:innen verwiesen werden.

Die Fingerspitzen können verwendet werden, um eine Ordnungsbeziehung (im Sinne von ‘erstens’, ‘zweitens’) auszudrücken, müssen dies aber nicht. Oft wird einfach aufgezeigt, dass mehrere Dinge – ohne Ordnungsbeziehung- erwähnt werden.

(a) Beispiel Viertens

IX-3a(Daumen)   MUTTER   |   IX-3b(Zeigefinger)  VATER  |  IX-3c(Mittelfinger) TOCHTER  |  IX-3d(Ringfinger) HUND  |  IX-3e(kleiner Finger) NACHBAR KIND |  IX-3a-e(ganze Hand)  HEUTE  AUSFLUG  ||00:14-00:22

‘Alle: Mutter, Vater, Tochter, Hund und das Nachbarkind unternehmen heute gemeinsam einen Ausflug.’

 

Im folgenden Beispiel wird durch das Antippen des Mittelfingers auf die zuvor identifizierte Person Bezug genommen und erklärt, dass sie krank ist:

(b)

IX-3(Mittelfinger)   KRANK ||00:27-00:30

 

Diese Aufzählungspronomen oder Listenbojen sind praktikabel bis zu einer Anzahl von fünf Referent:innen.

Ab einer Anzahl von sechs wird die Aufzählung folgendermassen weitergeführt:

(c)

SECHSTE  PERSON  IX-3   oder    SECHSTE IX-3(dH-Daumen) || 00:36-00:39

Besitz beziehungsweise Eigentum wird in der Regel durch ein Possessivpronomen gefolgt vom entsprechenden Nomen ausgedrückt (‘meine Mama’):

(a)

POSS-1   MUTTER  |  POSS-2   MUTTER  und  POSS-3 MUTTER ||00:08-00:12

 

Es ist aber auch möglich, das Nomen durch sein Mundbild zu ersetzen und dieses zeitgleich mit dem Possessivpronomen zu produzieren:

(b)

POSS-1(mb:mama)00:14-00:15

(c)

POSS-1(mb:vater)  oder  POSS-1(mb:tochter)00:24-00:25

 

Diese Kurzformen kommen häufig im Zusammenhang mit familiären Beziehungen zum Tragen.

Die Possessivpronomen (POSS) im Singular sehen folgendermassen aus:

 

POSS-1

Handform mit Handfläche auf die Brust (Dt. mein) 

Video – 00:11

 

POSS-2

Handform mit Handfläche und Blick (Dt. deinauf Gesprächspartner:in gerichtet

Video – 00:14-00:16

 

POSS-3

Handform mit Handfläche (Dt. sein/ihr) seitlich zum Lokus IX3, Blick kurz zu IX3 und zurück zum Gegenüber

Video – 00:19-00:20

 

Die Possessivpronomen im Plural werden gebildet durch das jeweilige Possessivpronomen im Singular und das Hinzufügen des entsprechenden Personalpronomens (‘mein + wir’, ‘dein + ihr’, ‘sein/ihr + sie):

 

POSS-1 + IX-1pl  

Handform mit Handfläche auf Brust + kreisende  Bewegung mit Zeigefinger

oder

POSS-1 + IX-1pl(Hf-5) 

+ kreisende Bewegung mit 1 – Handform (Handfläche nach unten)

Video – 00:36-00:43

 

POSS-2 + IX-2pl

Handform mit Handfläche gegen und Blick auf Gesprächspartner:in gerichtet + kreisende Bewegung mit Zeigefinger

oder

POSS-2 + IX-2pl(Hf-5) 

+ lateral von links nach rechts

Video – 00:52-00:53

 

POSS-3 + IX-3pl 

Handform mit Handfläche seitlich zum Lokus IX3, Blick kurz zu IX3 und zurück zum Gegenüber + kreisende Bewegung mit Zeigefinger

oder

POSS-3 + IX-3pl(Hf-5)

+ Handform kreisend und seitlich zum Lokus IX3

Video – 01:01-01:04

Das Bilden oder Unterteilen von Gruppen von Referent:innen geschieht durch die Bewegungsausführung: Es wird die Zahlgebärde mit der entsprechenden Anzahl an ausgestreckten Fingern gebildet, danach schliessen sich die Finger, um den Daumen zu treffen:

(a) FÜNF

Video – 00:11-00:12

 

In folgendem Beispiel wird eine Gruppe bestehend aus zehn Frauen unterteilt in zwei Dreier- und eine Vierergruppe. Zuerst bildet die dH die Gebärde ‘DREI’ mit der Handfläche nach oben, dann modifiziert sie diese zu einer Gruppe, indem sie die Hand leicht nach unten bewegt und die Finger zum Daumen schliesst. Die ndH macht dasselbe mit Modifikationen für eine weitere 3er-Gruppe und tut dies dann noch einmal mit der Gebärde ‘VIER’ (ebenfalls mit der Handfläche nach oben). Diese drei Untergruppen werden an leicht unterschiedlichen Stellen im Raum platziert.:

(b)

IX-3pl   ZEHN   FRAU   IX-3pl  |  ICH   DREI(Gruppe)a  DREI(Gruppe)b  VIER(Gruppe)c  ||

‘Die Gruppe von zehn Frauen habe ich in zwei Dreiergruppen und eine Vierergruppe eingeteilt.’

Video – 00:14-00:20

 

Auf diese Weise kann zum Beispiel in Gruppenarbeiten eingeführt werden.

Die Art und Weise der Bewegung bei der Ausführung der Zahleninkorporation informiert darüber, ob die gebärdende Person auch in die Gruppe eingeschlossen ist oder ob mehrere Gruppen (‘ihr’ und ‘sie’) zu einer grösseren Gruppe zusammengeschlossen werden.

 

Im folgenden Beispiel zunächst eine Äusserung im exklusiven Plural, in welchen weder die gebärdende Person noch der/die Adressat:in eingeschlossen sind:

(a) ‘sie/die 5er-Gruppe’

Video – 00:29-00:30

 

Berührt die kreisende Bewegung der Hand den Oberkörper der gebärdenden Person, dann ist sie in die Gruppe eingeschlossen, es handelt sich also um einen inklusiven Plural:

(b) ‘5er-Gruppe inkl. ich’

Video – 00:31-00:32

 

Wenn die Bewegung die räumlichen Bezugspositionen sowohl der zweiten als auch der dritten Person einschliesst, dann werden diese als zu einer Gruppe gehörig bezeichnet:

(c) ‘5er Gruppe bestehend aus euch und ihnen’

Video – 00:41-00:42

 

Wenn die Bewegung der Gebärde eine Berührung mit dem Oberkörper der gebärdenden Person beinhaltet, wird auch diese in die Gruppe einbezogen:

(d) ‘5er Gruppe bestehend aus euch und mir’

Video – 00:48-00:50

 

Bewegung, Position und Körperkontakt geben somit Auskunft darüber, wer Teil der Gruppe ist. (Inklusiver vs. Exklusiver Plural)

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