Vor der eigentlichen Frage (Entscheidungsfrage oder Ergänzungsfrage) wird in Gebärdensprache oft zuerst ins Thema (Topik) eingeführt, auf welches sich die Frage bezieht. Zur Topikalisierung je ein Beispiel einer Entscheidungsfrage (a) und einer Ergänzungsfrage (b): 

(a)

                                                                                  t                                       jn ?

IX-2 GESTERN RESTAURANT HINGEHENaIXa |ESSEN IXaGUTIXa ||  00:12-00:17

‘War das Essen im Restaurant, das du gestern besucht hast, gut?’

Im Beispiel (a) wird zuerst in das Thema eingeführt (‘Restaurantbesuch‘) und danach eine Frage dazu gestellt (‘gutes Essen?’). Im Deutschen sieht die Informationsstruktur anders aus: Die Frage wird mit Satzbeginn (‘Essen … ’) eingeleitet und allenfalls am Satzende abgeschlossen (‘gut?’); das Thema (‹Restaurantbesuch’), auf welches sich die Frage bezieht, folgt am Schluss oder wird eingeschoben.

(b)

                                                                                         t                                             w-?

GESTERN IX-2 KURSGUTPROD-besuchen-viela |WIEVIELANMELDENIXa ||  00:30-00:34

‘Wieviel Personen haben sich zum gestrigen Kurs, der ja gut besucht war, angemeldet?

Auch in diesem Beispiel (b) mit einer Ergänzungsfrage wird zuerst ins Thema eingeführt (‘gut besuchter Kurs’) und danach eine Frage dazu gestellt (‘wie viele Personen?’). Im Deutschen ist die Frage analog Beispiel (a) aufgebaut.

In Gebärdensprache wird also zuerst das ‘übergeordnete’ Thema (Kontext) angegeben, die darauf bezogene Frage stellt eine Fokussierung dar.

Die zentralen Merkmale eine Frage (Entscheidungsfrage und Ergänzungsfrage) sind folgende: Die nichtmanuellen Komponenten (Oberkörper und Kopf sind nachvorne geneigt und die Augenbrauchen sind hoch- oder nach unten gezogen), die letzte Gebärde wird etwas länger gehalten und die Gebärde ‘PALM-UP(?)wird hinzugefügt.

Diese Merkmale können mehr oder weniger stark ausgeprägt sein je nachdem, ob eine Frage sehr deutlich und für alle Anwesenden wahrnehmbar zum Ausdruck gebracht wird oder aber sich dezent nur an das Gegenüber richtet. Dazu je ein kurzes Beispiel:

                               w-?

(a) WAS  ESSEN  IX-3  ||

‘Was isst er da?’ 00:30-00:32

In diesem Beispiel werden die Gebärden sehr nahe am Körper und in der Nähe des Kopfes ausgeführt; die nichtmanuellen Komponenten werden nur angedeutet. Die Frage soll nur vom Gegenüber wahrgenommen werden.

                                         w-?

(b) WAS  IX-3  ESSEN  IX-3  ||

‘Sag, was isst er denn da?’ 00:33-00:35

Die Frage in diesem Beispiel kommt klar und deutlich zum Ausdruck. Die Gebärden nutzen den gesamten Gebärdenraum; Oberkörper und Kopf neigen sich stark nach vorne.

Wie offensichtlich oder nachdrücklich eine Frage formuliert wird (Verstärkung oder Abschwächung) kommt also durch die Grösse der Gebärden und der Bewegung von Oberkörper und Kopf zum Ausdruck. Die gesprochene Sprache variiert dazu die Intonation und die Lautstärke.

Auch die Position der Verneinung (siehe Kapitel 6) einer Ergänzungsfrage hängt mit der Satzlänge zusammen. In einem kurzen Satz steht die verneinte Frage am Satzanfang, allenfalls wird sie am Satzende wiederholt. In einem langen Satz steht die Verneinung ganz am Schluss nach der Ergänzungsfrage.

Wo im Satz eine lexikalisierte Ergänzungsfrage steht, ist abhängig von der Länge eines Satzes. In kurzen Sätzen steht sie meist am Anfang. Es ist möglich, sie am Satzende zu wiederholen oder aber die Gebärde ‘PALM-UP(?)hinzuzufügen, welche gehalten wird, um das Gegenüber zu einer Antwort aufzufordern. In langen Sätzen folgt die Ergänzungsfrage meist nach der Einführung ins Thema, auf welches sie sich bezieht.

Zu beachten gilt, dass die Entscheidungsfrage oft durch die Gebärde ‘PALM-UP(?)(einhändig oder zweihändig) ausgedrückt wird, welche am Satzanfang oder Satzende steht.

Es folgen kurze und lange Satzbeispiele zu den Fragen ‘WO?’ (1.), ‘WARUM?’ (2.), ‘WIE?’ (3.) und ‘WAS?’ (4.):

Nähe beziehungsweise Distanz

Es stellt sich hier die Frage, wie nahe sich gebärdende Person und Adressat:innen sind, ob und wie gut sie sich kennen. Zu Familienangehörigen oder Freunden beispielsweise besteht grosse Nähe, zu anderen Personen mehr oder weniger grosse Distanz. Nähe und Distanz zwischen gebärdender Person und Adressat:innen sind auch beeinflusst vom Ort oder dem Anlass der Begegnung. Dies kann zum Beispiel die Schule, Sport, Freizeit oder der Arbeitsplatz sein.

Bei grosser Nähe reicht in der Regel eine kurze Frage, bei grösserer Distanz kann ein längerer Fragesatz angezeigt sein.

 

Status

Der Status zwischen den Beteiligten beziehungsweise die Statusunterschiede (zum Beispiel Kommunikation mit Vorgesetzten oder Politiker:innen) beeinflussen ebenfalls die Länge des Fragesatzes. Ein kurzer Fragesatz ist bei gleichem Status der Beteiligten die Regel, ein längerer Fragesatz bei Statusunterschieden, welche automatisch mit grösserer Distanz einhergehen.

 

Alter

Die gebärdende Person und die Adressat:innen können gleich alt sein oder es kann ein Altersunterschied bestehen. Besteht kein beziehungsweise ein geringer Altersunterschied, so kann der Fragesatz kurz gehalten werden. Bei einem grossen Altersunterschied – unabhängig in welche Richtung – wird in der Regel ein längerer Fragesatz gebildet.

Die drei Aspekte Nähe-Distanz, Status und Alter können sich gegenseitig beeinflussen. Sind sich die Beteiligten zum Beispiel trotz grossem Altersunterschied sehr nahe (z.B. Enkelkind-Grossmutter), wird ein kurzer Fragesatz gebildet.

 

Anzahl Adressat:innen

Eine Frage kann zum Beispiel in einer 1:1-Situation, einer 5er-Gruppe oder einer Gruppe von 50 Personen gestellt werden. Ist nur ein/e Adressat:in anwesend, so kann ein kurzer Fragesatz genügen. Richtet sich die Frage aber an eine grosse Gruppe, so wird er länger sein.

 

Inhalt des Kommunikationsanlasses

Ein kurzer Fragesatz genügt, wenn sich zwei Beteiligte sehr gut kennen, sich täglich sehen und sich über Alltägliches unterhalten. Wird jedoch ein neues Thema, ein anderes Fachgebiet oder ein thematisch neuer Bereich angeschnitten, so wird der Fragesatz automatisch länger.

Es gilt also diese fünf Aspekte zu beachten, wenn es darum geht, ob ein Fragesatz kurz gehalten werden kann oder ob eine längere Formulierung nötig ist.

Die Stellung der Ergänzungsfrage (W-Frage wie ‚WARUM‘‚WIE‘, ‚WER‘ etc.) im Satz ist abhängig von seiner Länge. Im nächsten Kapitel werden die unterschiedlichen Positionen der Ergänzungsfrage in kurzen Sätzen und langen Sätzen gegenübergestellt. 

Die Länge eines Ergänzungsfragesatzes wiederum wird beeinflusst vom Kontext, welcher folgende Aspekte umfasst:

  • Nähe beziehungsweise Distanz zwischen gebärdender Person und Adressat:innen
  • Status von gebärdender Person und Adressat:innen
  • Alter von gebärdender Person und Adressat:innen
  • Anzahl Adressat:innen
  • Inhalt des Kommunikationsanlasses

(a) WORÜBER

ÜBER + PALM-UP(?) + IX  00:01-00:03

Die Frage-Gebärde ‘WORÜBER?’ bezieht sich auf ein Thema, von welchem die Rede ist.

Die Frage ‘mit wem?’ ist zwingend an eine pronominale Referenz gebunden (siehe Kapitel 2). Je nachdem, auf welche Anzahl Referent:innen (einzelne Person, Gruppe, mehrere Personen) sie sich bezieht, wird der zweite Teil der Frage unterschiedlich umgesetzt. Der erste Teil der Frage (‘MIT?’) bleibt sich gleich:

 

(a) MIT WEM?

MIT + PALM-UP(?)

Der Gebärde ‘MIT’ (einhändig oder zweihändig) folgt die Gebärde ‘PALM-UP(?)’.

 

(b) MIT WEM? (Einzelperson)

                                                                      w-?

MIT  PALM-UP(?) 2BEIDE3  |  IX-3  PERSON  ||00:27-00:30

‘Mit welcher Person zusammen (du und wer)?’

Die Frage bezieht sich in diesem Beispiel (b) auf eine einzelne Person. Dies wird durch die Gebärde ‘PERSON’ ausgedrückt.

 

(c) (MIT) WEM? (Gruppe)

                                                                        w-?

IX-2  MIT  PALM-UP(?)  GRUPPE  INHALT  ||00:00-00:05

‘Mit wem bist du in der Gruppe?’

Hier bezieht sich die Frage auf eine Gruppe von Personen, daher wird die Gebärde ‘GRUPPE’ gebildet.

Die Gebärde ‘WANN’ kann in zwei Varianten ausgeführt werden:

 

(a)                                                  (b)

(a) – 00:02-00:03

(b) – 00:07-00:08

Die zweite Variante (b) besteht aus der Gebärde ‘PALM-UP(?)’ mit begleitendem Mundbild ‘wann’.

 

Die Frage ‘wann?’ bezieht sich auf eine Zeitangabe; daher werden Zeitmarker (siehe Kapitel 12) in solchen Fragesätzen hinzugefügt. Dazu folgen zwei Beispiele:

(c)

                                                                                            w-?

WANN(Nase)  VERGANGENHEIT  IX-2  BEGONNEN  LERNEN   ||00:17-00:21

‘Wann hast du mit Lernen angefangen?’

In diesem Beispiel (c) wird die erste Variante der Gebärde ‘WANN?’ benutzt und mit der rückwärts gerichteten Gebärde ‘SEIT’ (Vergangenheit) kombiniert.

 

(d)

                                                                                w-?

WANN   NÄCHSTE  IX-2   FERIEN  WEGGEHEN  ||00:21-00:24

‘Wann wirst du in die Ferien gehen?’

Auf die Gebärde ‘WANN?’ (Variante 1) folgt eine vorwärts gerichtete Gebärde (‘SPÄTER’, ‘NÄCHSTE’) (Zukunft). Es wäre auch möglich, anstelle der Variante 1 die Variante 2 der Gebärde ‘WANN?’ zu benutzen.

 

(e)

                                                                                         w-?

WANN  ZEITMARKER ZL-B (zwischen)   IX-2   2BESUCHEN1   || 00:29-00:31

‚Wann ungefähr kommst du mich besuchen?‘

Auch in diesem Beispiel folgt der Gebärde ‘WANN?’ ein Zeitmarker (‘WÄHREND’).

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