Die Grundform der lexikalisierten Gebärde ‘NIEMAND’ kann reduziert (abgeschwächt) werden, indem sie einhändig ausgeführt wird. Sie kann ebenfalls erweitert (verstärkt) werden. Die Gebärde ‘NIEMAND’ steht nicht alleine, sie ist an eine pronominale Referenz (siehe Kapitel 2) gebunden:
(a) NIEMAND IX-2pl WOLLEN 2HELFEN1 ||
‘Niemand von euch will mir helfen.’
‘NIEMAND’ bezieht sich in diesem Beispiel auf die 2. Person Plural. Wer mit ‘NIEMAND’ gemeint ist, wird also nur durch die pronominale Referenz klar.
(b) NIEMAND IX-3pl 3BESUCHEN1 ||
‘Niemand von ihnen besucht mich.’
In diesem Beispiel (b) bezieht sich ‘NIEMAND’ auf die 3. Person Plural. Auf wen sich ‘NIEMAND’ bezieht, wird auch hier nur durch die pronominale Referenz klar.
In einer Interaktionssituation muss ‘NIEMAND’ jedoch nicht zwingend an eine pronominale Referenz gebunden sein, sofern der Bezug vorher bereits hergestellt wurde:
(c)
nmk: jn?
A: (CD) IX-2 DA HELFEN PERSON++ IX-2(3) ||
nmk: kurz schütteln
B: IX-3 (CD): 1SAGEN NIEMAND ||
A: ‘Hast du Helfer:innen?’
B: ‘Nein, niemand.’ – 00:45-00:48
Die Antwort bezieht sich in diesem Beispiel auf die ‘Helfer:innen’, dieser Bezug muss also nicht noch einmal explizit gemacht werden. Es wäre jedoch auch nicht falsch, dies zu tun, wie folgendes Beispiel zeigt:
(d)
nmk: schütteln jn?
B: (CD): NIEMAND IX-1pl 1plHELFEN1 | KÖNNEN IX-2 2HELFEN1 ||
B: ‘Nein, niemand von uns kann helfen. Kannst du uns helfen?’
Die Gebärde ‘NIEMAND’ kann also entweder alleine stehen, zusammen mit einer pronominalen Referenz oder sie kann von der Gebärde ‘PERSON’ (im Singular oder Plural) gefolgt werden. Zudem kann ‘NIEMAND’ mit der Verortung der Refererent:innen, auf welche Bezug genommen wird, verschmelzen, indem die Gebärde direkt an der Stelle der Verortung ausgeführt wird. Dazu ein Beispiel:
(e) NIEMAND-2pl
Diese Möglichkeit (e) wird nicht häufig benutzt.
Die Gebärden ‘NULL’ und ‘KEIN’ werden oft auch vom Mundbild ‘nichts’ begleitet:
(a) NULL mit Mundbild ‘nichts’ – 00:19-00:20
(b) KEIN mit Mundbild ‘nichts’ – 00:24
Die genaue Bedeutung, welche durch das Hinzufügen des Mundbildes ‘nichts’ entsteht, ergibt sich aus dem Inhalt der gesamten Aussage.
Die lexikalisierte Gebärde ‘KEIN’ sieht in ihrer Grundform (Grundform der manuellen und nichtmanuellen Komponenten) folgendermassen aus:
(a) KEIN
Eine Abschwächung dieser Verneinung wird dadurch realisiert, dass die Gebärde einhändig mit oder ohne Mundbild oder zweihändig ohne Mundbild ausgeführt wird:
(b) Abschwächung: einhändig mit Mundbild
Durch die Modifikation von Grösse und Stärke der Bewegung wird eine Verstärkung der Verneinung zum Ausdruck gebracht:
(d) Verstärkung: Bewegung
Eine Differenzierung der Verneinung wird immer an den Modifikationen der manuellen (und nichtmanuellen) Komponenten ersichtlich, also an der Abweichung von der nichtmodifizierten Grundform gemessen.
Ein weiteres Beispiel einer verneinenden lexikalisierten Gebärde ist die Gebärde ‘NULL’. Ihre Grundform sieht folgendermassen aus:
(a) NULL
Diese Gebärde kann mit oder ohne begleitendes Mundbild gebildet werden.
Die Grundform wird durch Modifikation der nichtmanuellen Komponenten erweitert (verstärkt) oder reduziert (abgeschwächt):
(b) Abschwächung von ‘NULL’
In diesem Beispiel wird die Gebärde nur einhändig ausgeführt, um die Verneinung abzuschwächen.
(c) Abschwächung von ‘NULL’
In diesem Beispiel wird die Gebärde mit einer leicht zittrigen Bewegung ausgeführt, um die Verneinung abzuschwächen.
(d) Verstärkung von ‘NULL’
In diesem Beispiel wird die Gebärde mit einer anderen Handform gebildet, um die Verneinung zu verstärken.
Durch die Modifikation der Bewegung kann die Gebärde ‘NULL’ und damit ihre Bedeutung variiert werden:
Es folgen einige Beispiele dazu, wie die Modifikation von Handform und Bewegung unterschiedliche Nuancen einer Verneinung hervorbringen können. In der gesprochenen Sprache kommen solche Nuancen durch die Modulation der Stimme und/oder durch verstärkende oder abschwächende Worte zum Ausdruck. In der geschriebenen Sprache durch Interpunktion, das Hinzufügen verstärkender oder abschwächender und das Hervorheben einzelner Worte.
(e)
nmk: schütteln
LEHRER IX NULL(2H: Hf-F) 3SAGEN1 | ICH MÜSSEN AUFRÄUMEN || – 00:00-00:08
‚Der Lehrer / die Lehrerin hat mir nicht gesagt, dass ich aufräumen müsse!‘
(f)
nmk: leicht schütteln
LEHRER IX NULL(2H: Hf-F;zittrig) 3SAGEN1 | ICH MÜSSEN AUFRÄUMEN || – 00:09-00:16
‚Der Lehrer / die Lehrerin hat mir nicht gesagt, dass ich aufräumen müsse.‘
(g)
nmk: leicht-schwach schütteln
LEHRER IX NULL(1H: Hf-F:zittrig) 3SAGEN1 | ICH MÜSSEN AUFRÄUMEN || – 00:17-00:22
‚Der Lehrer / die Lehrerin hat mir nichts von aufräumen gesagt.‘
Die Verneinungen werden von Beispiel (e) bis hin zu Beispiel (g) zunehmend abgeschwächt formuliert.
In den folgenden zwei Beispielen (h) und (i) kommt die Verneinung im Vergleich zu Beispiel (e) um einiges vehementer zum Ausdruck:
(h)
nmk: schütteln
LEHRER IX NULL(2H: Hf-F-Gross) 3SAGEN1 | ICH MÜSSEN AUFRÄUMEN || – 00:23-00:27
‚Der Lehrer / die Lehrerin hat mir gar nichts davon gesagt, dass ich aufräumen müsse!‘
(i)
nmk: 1x-schütteln
LEHRER IX NULL(2H: Hf-O-hart) 3SAGEN1 | ICH MÜSSEN AUFRÄUMEN || – Video – 00:28-00:33
‚Der Lehrer / die Lehrerin hat mir überhaupt gar nichts davon gesagt, dass ich aufräumen müsse!‘
Hier die aufgezeigten Verneinungen im Überblick:
Wird die hauptsächlich verwendete verneinende Gebärde, welche mit der Zeigefinger-Handform gebildet wird, nicht von einem Mundbild begleitet, so wird eine Aussage verneint. Ein begleitendes Mundbild differenziert dann die Bedeutung der Verneinung:
(a) ‘NIEMALS’ – 00:23-00:24
(b) ‘VERBOTEN’ – 00:31
(c) ‘NEIN’ (betont) – Video – 00:34-00:35
Die über das Mundbild zusätzlich vermittelten Informationen – wie in den Beispielen (a) bis (c) – müssen stets beachtet werden.
Die verneinende Gebärde mit der Zeigefinger-Handform wird häufiger benutzt. Wann anstelle der Zeigefinger-Handform, die offene Hand gebildet wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Wird zum Beispiel schnell gebärdet und die vorangehende Gebärde mit der offenen Hand gebildet, so kann diese Handform in der verneinenden Gebärde beibehalten werden; die vorangehende und nachfolgende Gebärde gehen fliessend ineinander über (Assimilation). Nachfolgend werden beide Möglichkeiten aufgeführt (der Inhalt der Aussagen ist derselbe):
(a) Verneinung mit Zeigefinger-Handform
nmk: schütteln
ICH DÜRFEN NICHT 1BESUCHEN2 || – 00:32-00:35
‚Ich darf dich nicht besuchen.‘ / ‚Ich darf nicht dorthin gehen.‘
(b) Verneinung mit offener Hand
nmk: schütteln
ICH DÜRFEN NICHT(Hf-5) 1BESUCHEN2 || – 00:42-00:44
‚Ich darf dich nicht besuchen.‘ / ‚Ich darf nicht dorthin gehen.‘
In Beispiel (b) werden die vorangehende Gebärde ‘DÜRFEN’ und die nachfolgende verneinende Gebärde mit derselben Handform gebildet.
Wird die verneinende Gebärde mit der offenen Hand ausgeführt, so kann dies auch bedeuten, dass die Verneinung betont wird, es sich also um eine klare Verneinung handelt (Verstärkung der Verneinung). Oder aber es wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Verneinung mit einer gewissen Vorsicht, mit Respekt gegenüber einer Person vorgebracht wird und noch Verhandlungsspielraum offenlässt.
Die Verneinung kann differenziert werden (verstärkt oder abgeschwächt) durch die Modifikation der Bewegung von Hand und Kopf (schnell, langsam, hart, weich etc.) und der Ausführungsstelle (unterschiedliche Nähe zum Körper):
(a) Modifikation von MK und NMK zur Abschwächung einer Verneinung:
(b) Modifikation von MK und NMK zur Verstärkung einer Verneinung:
Die Grundformen der manuellen und nichtmanuellen Komponenten sind hier also die Bezugsgrösse, an welcher die Verstärkung oder Abschwächung der Verneinung gemessen wird.
In DSGS existieren mehrere verneinende Gebärden. Insbesondere benutzt werden die zwei folgenden lexikalisierten Gebärden ‚NICHT‘. Beide Gebärden haben dieselbe Funktion der Verneinung, werden aber mit unterschiedlichen Handformen (Grundformen) gebildet (Zeigefinger-Handform oder offene Hand ):
Die Bewegung dieser zwei am häufigsten gebrauchten verneinenden Gebärden kann einmal oder mehrmals erfolgen. Eine einmalige Bewegung wird in der Regel ausgeführt, wenn die Verneinung innerhalb eines Satzes steht. Eine mehrmalige Bewegung steht in der Regel am Satzende, am Satzanfang oder sowohl als auch. Dazu je ein Beispiel:
(c) Verneinung innerhalb eines Satzes:
nmk: schütteln
GESTERN ICH KATZE NICHT SEHEN ICH || – Video – 00:01-00:04
‚Ich habe die Katze gestern nicht gesehen.‘
(d) Verneinung am Satzende:
nmk: schütteln
GESTERN ICH KATZE SEHEN | ICH NICHT++ || – 00:00-00:04
‚Ich habe die Katze gestern nicht gesehen.‘
Sowie die manuellen Komponenten haben auch die nichtmanuellen Komponenten verneinender Gebärden eine feste Grundform. Die Grundform der nichtmanuellen Komponente Kopf besteht aus Kopfschütteln:
(a) Kopfschütteln
Auch die Modifikation einer nichtmanuellen Komponente führt dazu, dass eine Verneinung verstärkt oder abgeschwächt wird. Der Oberkörper wird meist nach hinten, kann aber auch nach vorne geneigt werden. Das Schütteln des Kopfes erfolgt in der Position des Oberkörpers.
Die Art und Weise, die Dynamik des Kopfschüttelns kann je nach Differenzierung der Verneinung sehr unterschiedlich ausfallen (dezente, kräftige, kleine, grosse, einmalige, mehrmalige Bewegung etc.), wie folgende Beispiele zeigen:
(b)
Auch Mundbilder und Mundformen sind bei einer Verneinung zu beachten. Sie können ebenfalls modifiziert werden und geben damit über die Art der Verneinung Auskunft.
Die folgenden lexikalisierten verneinenden Gebärden sind in ihrer „regulären“ Form dargestellt. Dies bedeutet, dass sie sich aus den Grundformen ihrer manuellen Komponenten zusammensetzen, die manuellen Komponenten also nicht modifiziert sind:
(a) ‚NIE‘ – 00:05-00:06
(b) ‚KEIN‘ – 00:06-00:07
(c) ‚NULL‘ – 00:07-00:08
Die Differenzierung einer verneinenden Gebärde (Verstärkung oder Abschwächung der Verneinung) ergibt sich stets aus der Modifikation der manuellen Komponenten und damit aus der Abweichung der manuellen Komponenten von ihren Grundformen. Die Grundform ist die Bezugsgrösse, an welcher die Abweichung beziehungsweise die Differenzierung der Verneinung gemessen wird.
In der gesprochenen Sprache wird eine Verneinung durch die Modulation der Stimme und/oder durch das Hinzufügen verstärkender oder abschwächender Worte differenziert. In der geschriebenen Sprache geschieht dies durch das Hinzufügen verstärkender oder abschwächender Worte sowie durch Interpunktion und Hervorheben einzelner Worte.
Differenzierungen von verneinenden Gebärden werden grösstenteils durch Modifikationen der Bewegung realisiert. Eine weitere Möglichkeit ist es, eine einhändige Gebärde mit beiden Händen beziehungsweise eine zweihändige Gebärde nur mit einer Hand auszuführen.
Im ersten Fall wird die Grundform erweitert, die Verneinung dadurch verstärkt. Im zweiten Fall wird die Grundform reduziert, die Verneinung also abgeschwächt.
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