Von den Grundregeln zur Bildung einer Ergänzungsfrage darf abgewichen werden, wenn ein persönlicher Kommentar (eine Emotion) wie ‚Ich bin schockiert‘, ‚Ich bin erstaunt darüber‘, ‚Das ist ja unglaublich‘ oder ‚Ich bin begierig, etwas zu erfahren‘ in der Frage enthalten ist. In diesem Fall dürfen die Augenbrauen nach oben gezogen werden.

Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Frageformulierung einige Beispiele:

 

Grundform eines Ergänzungsfragesatzes:

(a)

                                                                        w-?

WER  PERSONa  LEHRER   PERSONa  IX-3a  ||  – 00:30-00:31

‚Wer ist dieser Lehrer?‘

Dieser Ergänzungsfragesatz ist nach den erläuterten Grundregeln mit nach unten gezogenen Augenbrauen gebildet.

 

Ergänzungsfragesatz mit persönlichem Kommentar:

(b)

                                w-? (Augenbr: hoch)

WER  PERSON3  LEHRER  WER   IX-3  ||  – 00:40-00:44

‚Sag schon, wer ist dieser Lehrer?‘

Obwohl es sich hier um eine Ergänzungsfrage handelt, werden die Augenbrauen nach oben gezogen. Dies weist darauf hin, dass die Frage von einem persönlichen Kommentar begleitet wird.

Hauptmerkmal von Ergänzungsfragen sind einerseits die nichtmanuellen Komponenten und andererseits lexikalisierte Gebärden (manuelle Komponenten) wie ‚WIE‘, ‚WARUM‘ etc. (W-Fragen).

 

(a) WIE

(b) WARUM

Die nichtmanuellen Komponenten zur Bildung von Ergänzungsfragen folgen mehrheitlich den Regeln, welche für Entscheidungsfragen gelten, nur die Augenbrauen werden etwas anders eingesetzt: Sie sind nach unten gezogen. Wie bei Entscheidungsfragen auch ist der Blick auf den/die Adressat:in gerichtet; Kopf/Kinn und Schultern sind nach vorne geneigt und die letzte Gebärde wird oft etwas länger gehalten. Zusätzlich wird eine Hand oder werden beide Hände mit der Handfläche nach oben fragend vor dem Körper gehalten (PALM-UP(?)).

Es gibt drei Möglichkeiten, eine verneinte Entscheidungsfrage zu bilden: Die erste (b) bedient sich dazu nur der nichtmanuellen Komponenten. Die beiden anderen Möglichkeiten (c und d) nutzen dazu lexikalisierte Gebärden (manuelle Komponenten) und zeichnen sich durch einen etwas anderen Satzbau aus.

Entscheidungsfragen ohne Verneinung:

(a )

                                        jn-?

IX-2   BLEIBEN   IX-2(hold)  ||   – 00:30-00:31

‚Bleibst du?‘

 

In den Beispielen (a) und (b) handelt es sich um gewöhnliche Entscheidungsfragen.

 

3 Möglichkeiten von Entscheidungsfragen mit Verneinung:

(a 1)

                         schütteln-jn-?

IX-2   BLEIBEN   IX-2(hold)  ||  – 00:40-00:42

‚Bleibst du nicht?‘

 

(a 2)

                                        schütteln-jn-?

IX-2   NICHT   BLEIBEN   IX-2(hold)  ||  – 00:53-00:56

‚Bleibst du nicht?‘

 

(a 3)

                                    jn-? |  schütteln-jn-?

IX-2   BLEIBEN   IX-2(hold)  |    NICHT++    ||  –  01:05-01:07

‚Bleibst du nicht?‘

 

 

(b)

                                                                           jn-?

IX-2  AUFGABEN  BEKOMMEN  IX-2(hold)  ||  – 00:00-00:03

‚Hast du Hausaufgaben bekommen?‘

 

(b 1)

jn-?                         |                    schütteln-jn-?

IX-2  AUFGABEN  BEKOMMEN  IX-2(hold)  ||  – 00:05-00:08

‚Hast du die Hausaufgaben nicht bekommen?‘

 

(b 2)

jn-?                            |                                                schütteln-jn-?

 IX-2  AUFGABEN  NICHT  BEKOMMEN  IX-2(hold)  ||  –  00:09-00:11

‚Hast du die Hausaufgaben nicht bekommen?‘

 

(b 3)

                                                                 jn-? |     schütteln-jn-?

IX-2  AUFGABEN  BEKOMMEN  IX-2(hold) |  NICHT++     ||  – 00:14-00:16

‚Du hast die Hausaufgaben nicht bekommen?‘

 

Die Verneinung in den Beispielen (a 1) und (b 1) wird lediglich durch Kopfschütteln angezeigt. Es handelt sich also um die erste der oben beschriebenen Möglichkeiten einer verneinten Entscheidungsfrage.

 

Die zweite Möglichkeit (a 2) und (b 2) setzt die lexikalisierte verneinende Gebärde ‚NICHT‘ mit einmaliger Bewegung vor das Verb.

 

Die in den Beispielen (a 3) und (b 3) aufgezeigte dritte Möglichkeit setzt die lexikalisierte verneinende Gebärde ‚NICHT‘ mit wiederholter Bewegung (siehe Kapitel 6) an den Schluss.

Entscheidungsfragen beziehen sich oft auf die Frage nach Besitz/Eigentum; in DSGS existiert dafür die Gebärde ‚DA‘.

 

DA (2 Varianten) – 00:06-00:07

 

Würde die Gebärde ‚DA‘ weggelassen, wäre der Inhalt missverständlich, wie folgendes Beispiel zeigt:

 

(a) *IX-2  VELO   IX-2(hold)  ||00:10-00:11

‚Bist du ein Fahrrad?‘

 

Die Frage muss zwingend die Gebärde ‚DA‘ enthalten, wenn nach Besitz/Eigentum gefragt wird:

 

(b) IX-2  DA VELO   IX-2(hold)  ||00:17-00:18

‚Hast du ein Fahrrad?‘

 

Auf diese Frage kann mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ oder mit ‚Ich besitze keines.‘ geantwortet werden.

 

Entscheidungsfragen, welche sich auf Besitz beziehen, enthalten also zwingend die Gebärde ‚DA‘.

Von diesen Grundregeln zur Bildung einer Entscheidungsfrage (Blick zum/zur Adressat:in, hochgezogene Augenbrauchen, Kopf und Oberkörper leicht nach vorne geneigt, letzte Gebärden etwas länger halten) kann abgewichen werden. So müssen insbesondere die Augenbrauen nicht immer gehoben, sie können zu bestimmten Zwecken auch nach unten gezogen werden:

Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Frageformulierung einige Beispiele:

 

Aussagesatz:

(a)

MÄDCHEN  IX-3  KRANK  IX-3  ||   – 00:36-00:39

‚Das Mädchen ist krank.‘

In Beispiel (a) handelt es sich um einen Aussagesatz.

 

Grundform eines Fragesatzes:

(b)

                            jn-?(Augenbr: hoch)

MÄDCHEN  IX-3  KRANK  IX-3(hold)  ||   – 00:44-00:46

‚Ist das Mädchen krank?‘

Dieser Entscheidungsfrage-Satz ist nach den erläuterten Grundregeln gebildet.

 

Fragesatz mit persönlichem Kommentar:

(c)

                     jn-?(Augenbr: gerunzelt)

MÄDCHEN  IX-3  KRANK  IX-3(hold)  ||  – 00:56-00:59

‚Ist das Mädchen wirklich krank?‘

Dieser Entscheidungsfrage-Satz weicht von den Grundregeln ab. Er enthält einen persönlichen Kommentar, der zum Beispiel Unsicherheit oder Skepsis zum Ausdruck bringen kann. Er wird durch das Herunterziehen der Augenbrauen, also durch das Runzeln der Stirn, realisiert.

 

Fragesatz als Rückversicherung:

(d)

                           jn-?(Augenbr: hoch) |            schütteln

MÄDCHEN  IX-3  KRANK  IX-3(hold) |   NICHT ++   ||

‚Das Mädchen ist krank oder nicht?‘    – 01:18-01:20

Mit einer solchen Frage (hochgezogene Augenbrauen, Verneinung am Schluss) will sich eine Person rückversichern und erwartet eine klärende Antwort wie etwa ‚Nein, sie ist gesund‘.

 

Die Grundform eines Entscheidungsfrage-Satzes wird also mit hochgezogenen Augenbrauen gebildet. Wird er persönlich kommentiert, so sind die Augenbrauen nach unten gezogen. Wird die Frage mit dem Ziel der Rückversicherung gestellt, so sind die Augenbrauen hochgezogen und am Schluss folgt eine Verneinung.

 

In der gesprochenen Sprache werden diese unterschiedlichen Fragemöglichkeiten durch Intonation, in der Schriftsprache durch das Hinzufügen von Wörtern und Satzzeichen realisiert.

Die nichtmanuellen Komponenten (Mimik, Haltung von Kopf und Oberkörper) sind entscheidend für die Bildung einer Entscheidungsfrage (Ja/Nein-Frage). Der Satzbau eines Fragesatzes und eines Aussagesatzes ist identisch; erst die Modifikation der nichtmanuellen Komponenten bildet den Fragesatz: Der Blick ist dabei auf den/die Adressat:in gerichtet, die Augenbrauen sind hochgezogen, Kopf/Kinn und Schultern sind nach vorne geneigt und die letzte Gebärde wird oft etwas länger gehalten.

In folgenden Beispielen werden Aussagesatz (a) und Fragesatz (b) gegenübergestellt:

 

(a)

IX-2  BUCH   IXa  aABHOLEN  IX-2  ||  – 00:55-00:58 

‚Du gehst das Buch abholen.‘

In diesem Beispiel (a) handelt es sich um eine neutrale Aussage.

 

(b)

                                                        jn-?

IX-2  BUCH   IXa  aABHOLEN  IX-2(hold) ||  – 01:02-01:05

‚Gehst du das Buch abholen?‘

Dass es sich in diesem Beispiel (b) um einen Fragesatz handelt, ist daran zu erkennen, dass die letzte Gebärde, in diesem Fall der Index (siehe Kapitel 2), also das ‘du’, sowie auch der Blickkontakt, die Position von Kopf/Kinn und Oberkörper und die angehobenen Augenbrauen unverändert beibehalten werden.

Eine Frage ist hauptsächlich an den nichtmanuellen Komponenten, insbesondere an der Mimik und an der Haltung von Kopf und Oberkörper erkennbar. Es existieren ebenfalls lexikalisierte Gebärden (manuelle Komponenten) für Fragen. Hauptmerkmal einer Frage sind jedoch die nichtmanuellen Komponenten, welche simultan zum Gebärdeten – also über mehrere Gebärden hinweg – ausgeführt werden.

Es existieren zwei Arten von Fragen: Entscheidungsfragen (geschlossene Fragen), welche lediglich mit ‘ja’ oder ‘nein’ beantwortet werden können, die sogenannten Ja/Nein-Fragen, und Ergänzungsfragen (offene Fragen), die sogenannten W-Fragen (was, wer, wie, wo, warum, etc.), welche eine umfassendere Antwort zulassen.

¹ Eines der ersten deutschsprachigen Bücher über moderne Gebärdensprachforschung war «Einführung in die Gebärdensprache und ihre Erforschung» von Penny Boyes Braem. Hamburg: Signum Verlag. (1995) (als PDF auf www.fzgresearch.org).

Ein neueres Buch über die Grammatik der Deutschen Gebärdensprache ist Handbuch Deutsche Gebärdensprache: Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven von Hanna Eichmann, Martje Hansen & Jens Hessmann (Hrsg.) (2012) Hamburg: Signum Verlag.

 

² Die Gebärdensprachen in der Schweiz sind immer noch nicht als «offizielle» Schweizer Sprache anerkannt, weil ihre Benutzer:innen nicht in einem definierbaren geografischen Gebiet wohnten, wie dies bei den Sprecher:innen der vier offiziellen gesprochenen Landessprachen Romanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch/Schweizerdeutsch der Fall ist. Allerdings hat das Schweizer Parlament 1994 ein Postulat verabschiedet, das Folgendes festhält: «Der Bundesrat wird aufgefordert, die Gebärdensprache für die Integration gehörloser und hörbehinderter Menschen einzusetzen und sie neben der Lautsprache in Erziehung, Ausbildung, Forschung und Informationsvermittlung zu fördern». Das letzte Anerkennungsgesuch wurde 2021 erneut abgelehnt, obwohl im gleichen Jahr die Deutschschweizer Gehörlosenschulen und der Schweizerische Gehörlosenbund (SGB-FSS) eine offizielle Erklärung veröffentlichten, in der sie sich für die jahrelange Unterdrückung der Gebärdensprache durch die Schulen entschuldigten.

Mehr Informationen über Gehörlose und Gebärdensprache in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert finden Sie in dem Buch «Aus erster Hand» von Rebecca Hesse, Alan Canonica, Mirjam Janett, Martin Lengwiler und Florian Rudin. Chronos Verlag (2020).

Einen Überblick über die Entwicklung der Gebärdensprachforschung und die Ausbildungsprogramme für DSGS-Lehrer:innen und -Dolmetscher:innen finden Sie in Penny Boyes Braem, Tobias Haug und Patty Shores. «Gebärdenspracharbeit in der Schweiz: Rückblick und Ausblick». Das Zeichen (90). 58-74. (2012).

 

³ Eines der ersten deutschsprachigen Bücher über moderne Gebärdensprachforschung war «Einführung in die Gebärdensprache und ihre Erforschung» von Penny Boyes Braem. Hamburg: Signum Verlag. (1995) (als PDF auf www.fzgresearch.org).

Ein neueres Buch über die Grammatik der Deutschen Gebärdensprache ist Handbuch Deutsche Gebärdensprache: Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven von Hanna Eichmann, Martje Hansen & Jens Hessmann (Hrsg.) (2012) Hamburg: Signum Verlag.

 

⁴ Eine erste Studie, die die Geschwindigkeit der Produktion von Gebärden und Wörtern vergleicht, ist

  • Bellugi, Ursula & Susan Fischer (1972) « A Comparison of sign language and spoken language». Cognition 3(2), 93-125. Diese Studie wird auch in den in Anmerkung 2 zitierten Büchern auf Deutsch beschrieben.

 

⁵ Eine Beschreibung aller Techniken findet sich in «Bilderzeugungstechniken in der Deutschen Gebärdensprache» von Gabriele Langer in Das Zeichen (19). 254-270.

 

⁶ Die Abkürzungen für die Sprachen im französischen und italienischen Teil der Schweiz lauten vielleicht besser LSF-SR (Langue des Signes Suisse Romande) und LIS-TI (Lingua dei Segni Italiana Ticino), um sie von den Gebärdensprachen in den Nachbarländern Frankreich und Italien zu unterscheiden. Ob es sich bei diesen Schweizer Gebärdensprachen wirklich um verschiedene Sprachen oder einfach um Dialekte der Gebärdensprachen in den anderen Ländern handelt, muss jedoch noch weiter untersucht werden.

 

⁷ Die verschiedenen Systeme zur Verschriftlichung der Gebärdensprache werden in den folgenden Artikeln beschrieben.

  • «Gebärdenschriften: Flüchtiges fixieren» von Susanne König und Constanze Schmaling. In Handbuch Deutsche Gebärdensprache: Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven von Hanna Eichmann, Martje Hansen & Jens Hessmann (Hrsg.) (2012) Hamburg: Signum Verlag. 341-356.

  • Penny Boyes Braem, «The Changing Methods of Researching Signed Languages». In Andrea Ender, Adrian Leemann & Bernard Wälchli (Hrsg.) Berlin: de Gruyter Mouton (2012) 411-438.

 

Penny Boyes Braem

Nov. 2021

Die Notation-Systeme zum Schreiben einzelner Gebärden lassen sich jedoch nur schwer für ganze Texte mit gebärdeten Sätzen verwenden. Es ist schwierig, lange Zeichenfolgen für mehrere Sätze zu lesen, selbst wenn man das Notationssystem gelernt hat.  Eine Ausnahme ist SignWriting, das wahrscheinlich am einfachsten zu erlernen ist und daher von Gebärdenden in vielen Ländern für den täglichen Schreibbedarf verwendet wird.

 

Deshalb verwenden die Forscher für Texte immer noch ein System von Glossierungen, bei dem die Gebärden durch Wörter aus der gesprochenen Sprache dargestellt werden, die ähnliche Bedeutungen haben. Die DSGS Gebärde für Milch würde MILCH geschrieben werden. Die Forscher warnen jedoch stets davor, dass Glossierungen keine vollständige Übersetzung der jeweiligen Bedeutungen der Gebärden sind, sondern eher dazu dienen, eine Gebärde schnell zu identifizieren. Einfache Glossierungen geben keine Auskunft über die Form der Gebärde.  Das Wort der gesprochenen Sprache wird für die Glossierung so gewählt, dass es die Grundbedeutung der Gebärde so weit wie möglich wiedergibt, aber oft nicht alle Bedeutungsnuancen der Gebärde zeigt. Die Gebärde hat möglicherweise auch nicht alle Bedeutungen des Wortes. Glossen werden üblicherweise in Grossbuchstaben notiert, um darauf hinzuweisen, dass es sich dabei lediglich um eine Form von Beschriftung handelt, ein Etikett, und nicht um eine vollständige Übersetzung.

 

Eine Übersicht über die Konventionen, die für die Glossierung von Gebärden in diesem Projekt verwendet werden, finden Sie im Hauptmenü dieser Website.⁷

Forscher benötigen oft eine genauere Notation der Komponenten der einzelnen Gebärden und haben dafür Notationssysteme mit speziellen Symbolen entwickelt (Siehe Abb. 6).

Abb. 6: Beispiele für die an den weitesten verbreiteten Systemen zum Schreiben einzelner Gebärden.

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