Der reale Raum kann im Gebärdenraum in unterschiedlichem Massstab und aus unterschiedlicher Perspektive abgebildet werden. Nimmt die gebärdende Person eine Erzähl-Perspektive ein, so ist ihr Blickwinkel weiter. Wählt sie jedoch einen Ausschnitt, so zoomt sie diesen sozusagen heran und hat selbst Anteil am Raum.

Der globalen Verortung liegt die Vorstellung der Weltkugel in ihrer Dreidimensionalität zugrunde.

Die Schilderung einer Weltreise mit Start in der Schweiz über Russland und China nach Australien sieht folgendermassen aus:

(a) – 00:12-00:22

Die gebärdende Person stellt die Referent:innen und ihre Bezüge immer aus der Perspektive ihres aktuellen Standorts dar. Wäre dies Australien, würde sie die Route Richtung Schweiz folgendermassen ‘zeichnen’:

(b) – 00:29-00:34

Die vertikale Verortung (vertikale Ebene im Raum) kommt häufig zum Einsatz. Alle visuellen Darstellungen in zwei Dimensionen (z.B. Bild, Beschreibung, Grafik, Zeichnung oder Landkarte) werden auf einer vertikalen Ebene vor der gebärdenden Person abgebildet. So zum Beispiel in der Schweiz die Strecke Genf – St. Gallen im folgenden Beispiel:

(a) – 00:28-00:33

Die gebärdende Person richtet ihren Blick auf die vor ihr liegende imaginäre vertikale Landkarte und verortet Genf im Westen entsprechend links, St. Gallen im Osten rechts. Die Bezüge zwischen den beiden Referent:innen (z.B. die Art und Weise sowie die Form des Pfades, der Fortbewegung beziehungsweise Route) werden ebenfalls auf dieser vertikalen Frontalebene dargestellt.

Die vertikale Verortung kann für ganz Europa und seine verschiedenen Länder verwendet werden.

Angaben zu Organigrammen (b), Familienstammbäumen (c) oder Bildschirmen (d) werden ebenfalls vertikal verortet.

 

(b) Organigramm:  – 00:53-01:02

(c) Familienstammbaum: – 01:03-01:12

(d) Bildschirm: – 01:14-01:21

Die horizontale Verortung (horizontale Ebene im Raum) dient dazu, eine Richtung, eine Route oder die Lage im Raum anzugeben (rechts-links, vorne-hinten usw.). Die gebärdende Person kann dabei unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Sie kann Anteil am Raum haben und selbst die Rolle eines/einer Referent:in übernehmen, einen/eine Referent:in also auf den eigenen Körper projizieren (Teilnehmenden-Perspektive). Das Ereignis wird «lebensgross» (aus der Teilnehmenden-Perspektive) dargestellt. Nimmt die gebärdende Person eine distanziertere Perspektive ein (Erzähl-Perspektive), so hat sie konzeptuell keinen Anteil am Raum. Die Strukturierung des Gebärdenraums spiegelt aber die tatsächlichen Positionen der Referent:innen, das Ereignis wird jedoch in verkleinertem Massstab wiedergegeben. Die beiden Perspektiven können kombiniert werden.

Horizontale Verortung –  Beispiel  1 (innen)

Folgendes Beispiel beschreibt eine Szene und ihre räumlichen Verhältnisse aus einer Teilnehmenden-Perspektive im Massstab 1:1. Die gebärdende Person kann die Szene selbst erlebt haben oder Erzähltes wiedergeben:

(a)

Erz:    ICH  HAUPT BAHNHOF  ICH   HIER  WARTEN  |  PROD(HB-Halle:geradeaus-lang ENGEL   PROD-hängen(Engel)  ||  Teiln:  PROD-schauen(zu Engel)  PROD-halten(Arm)-warten  |  Erz:  3KOMMEN1  POSS-1 FREUND 3KOMMENTeiln:  ICH  PROD-umarmen  ||  – 00:01-00:12

‘Ich warte in der Halle des Hauptbahnhofs und schaue zum Engel hoch, der an der Decke hängt. Da kommt (endlich) meine Freundin und wir umarmen uns.’

 

 

Horizontale Verortung –  Beispiel  2 (halb)

Eine distanziertere Perspektive wird durch die Kombination von Teilnehmenden-Perspektive (auch bekannt als Innenperspektive) und Erzähl-Perspektive (oder Ausssenperspektive) zum Ausdruck gebracht. Die räumlichen Positionen und Bezüge stimmen mit jenen der Realität überein, der Massstab ist jedoch ein anderer (etwa 1:10).

(b)

STRASSE   ECKE-linksa (ndH:hold)  IXa   MIGROS   IXa   IX(a:vis a vis:b)  IXb  RESTAURANT  | 1BEIDE1TREFFEN2   IX3b?  ||  – 00:01-00:24

‘An der linken Strassenecke befindet sich die Migros, gegenüber davon ein Restaurant. Wollen wir uns dort treffen?’

 

 

Horizontale Verortung –  Beispiel 3 (aussen)

In der Erzähl-Perspektive nimmt die gebärdende Person eine noch grössere Distanz ein, sie selbst hat keinen Anteil am topografischen Raum. Sie verortet Positionen und Bezüge auf einer vor ihr ausgebreiteten horizontalen Landkarte. Der tatsächliche Standpunkt der gebärdenden Person liegt dabei in Körpernähe. In folgendem Beispiel ist dies die Schweiz, der Süden liegt entsprechend vorne im Raum, der Westen rechts und der Osten links.

(c)

ICH  WILL  ZUERST   BAHN   1RICHTUNG(gerade-vorne) a  ROM  IXa   DANN  WECHSELN  PROD-fliegen(Flug a:vorne-b:rechts)   aNACHb  AMERIKA   ||  – 00:01-00:07

‘Ich möchte zuerst mit dem Zug nach Rom fahren und von dort dann ein Flugzeug nach Amerika nehmen.’

Es gibt drei Techniken, um anwesende oder abwesende beziehungsweise abstrakte Referent:innen im topografischen Raum zu lokalisieren: Die horizontale Verortung, die vertikale Verortung und die globale Verortung.

(Beachte, dass Personalpronomen im Singular ebenfalls auf einer horizontalen Ebene angezeigt werden, was jedoch nichts mit dem topografischen Raum zu tun hat.)

Der Gebärdenraum wird dann als topografischer Raum bezeichnet, wenn die gebärdende Person die Vorstellung einer Landkarte (zweidimensional, vertikal oder horizontal) oder einer Weltkugel (dreidimensional) auf den Gebärdenraum projiziert und darauf die Referent:innen abbildet. Die Verortung der Referent:innen, ihre Beziehungen zueinander und die Grössenverhältnisse entsprechen den Positionen und Verhältnissen im tatsächlichen Ereignis. Die gebärdende Person kann aber den Massstab variieren und den Raum je nach Perspektive unterschiedlich strukturieren.

Referent:innen (siehe Kapitel 7) werden nicht immer mit dem ausgestreckten Zeigefinger im Raum verortet. Es ist möglich die Handform dem Objekt beziehungsweise einer Gruppe von Objekten mit ähnlichen Eigenschaften wie zum Beispiel ‘Gebäude’ anzugleichen. In folgenden Beispielen werden die Referent:innen durch solch klassifizierende Handformen repräsentiert:

(a) klassifizierende Handform für Haus

PROD-stehen(Haus)  – 00:22

(b) klassifizierende Handform für Frau

PROD-stehen(Frau) – 00:24

(c) klassifizierende Handform für Auto

PROD-stehen(Auto) – 00:26

Weil die Finger als Loki verwendet werden, sind Referent:innen eindeutig identifizierbar. Je nach begleitender Mimik, Bewegung und Handform beim Indexieren wird betont, ob exakt diese/r (!) spezifische Referent:in gemeint ist (a) oder aber dass Unsicherheit darüber besteht (b):

(a) Bezeichnung spezifische/r Referent:in durch:

den Finger greifen diese Mimik

ERSTENS-IX-3a(ndH-Daumen)  MAMA(dH)  |  ZWEITENS-IX-3b(ndH-Zeigefinger ndH)  PAPA(dH)   |  DRITTENS-IX-3c(ndH-Mittelfinger)  TOCHTER(dH)   |  VIERTENS-IX-3d(ndH-Ringfinger)  HUND(dH)  |  FÜNFTENS-IX-3e(ndH-Kleiner Finger)  NACHBAR KIND(dH)   |  IX-3pla-e(dH:alle fünf)  FÜNF(ndH)REISEN   ||  – 00:13-00:23

(b) Bezeichnung unspezifische/r Referent:in durch:

diese Mimik

 FÜNFTENS-IX-3 (ndH-Kleiner Finger)  – 00:13-00:23

Zur Aufzählung mehrerer Referent:innen können die Fingerspitzen der ndH als Loki dienen. Anschliessend kann durch das Antippen dieser ‘Platzhalter’ mit der dH auf die Referent:innen verwiesen werden.

Die Fingerspitzen können verwendet werden, um eine Ordnungsbeziehung (im Sinne von ‘erstens’, ‘zweitens’) auszudrücken, müssen dies aber nicht. Oft wird einfach aufgezeigt, dass mehrere Dinge – ohne Ordnungsbeziehung- erwähnt werden.

(a) Beispiel Viertens

IX-3a(Daumen)   MUTTER   |   IX-3b(Zeigefinger)  VATER  |  IX-3c(Mittelfinger) TOCHTER  |  IX-3d(Ringfinger) HUND  |  IX-3e(kleiner Finger) NACHBAR KIND |  IX-3a-e(ganze Hand)  HEUTE  AUSFLUG  ||00:14-00:22

‘Alle: Mutter, Vater, Tochter, Hund und das Nachbarkind unternehmen heute gemeinsam einen Ausflug.’

 

Im folgenden Beispiel wird durch das Antippen des Mittelfingers auf die zuvor identifizierte Person Bezug genommen und erklärt, dass sie krank ist:

(b)

IX-3(Mittelfinger)   KRANK ||00:27-00:30

 

Diese Aufzählungspronomen oder Listenbojen sind praktikabel bis zu einer Anzahl von fünf Referent:innen.

Ab einer Anzahl von sechs wird die Aufzählung folgendermassen weitergeführt:

(c)

SECHSTE  PERSON  IX-3   oder    SECHSTE IX-3(dH-Daumen) || 00:36-00:39

Besitz beziehungsweise Eigentum wird in der Regel durch ein Possessivpronomen gefolgt vom entsprechenden Nomen ausgedrückt (‘meine Mama’):

(a)

POSS-1   MUTTER  |  POSS-2   MUTTER  und  POSS-3 MUTTER ||00:08-00:12

Es ist aber auch möglich, das Nomen durch sein Mundbild zu ersetzen und dieses zeitgleich mit dem Possessivpronomen zu produzieren:

(b)

POSS-1(mb:mama)00:14-00:15

(c)

POSS-1(mb:vater)  oder  POSS-1(mb:tochter)00:24-00:25

Diese Kurzformen kommen häufig im Zusammenhang mit familiären Beziehungen zum Tragen.

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