Das erstarrte Register ist in Gebärdensprache nicht oft zu sehen. Es wird in formellen Situationen der hörenden Gesellschaft benutzt, zum Beispiel bei Gericht. Die Ausdrucksweise in juristischen Texten wie Gesetzestexten ist streng geregelt, hoch formalisiert und nicht veränderbar, daher der Begriff «erstarrt». Der Wortlaut eines Gesetzes beispielsweise muss exakt eingehalten werden, um rechtliche Gültigkeit zu haben. Wenn gehörlose Menschen Zugang zu höherer Bildung erhalten werden, wird sich das erstarrte Register möglicherweise auch in der Gebärdensprache etablieren.
Das erstarrte Register spielt auch eine Rolle in anderen Themenbereichen beziehungsweise für andere Interessengruppen. Religiöse Schriften wie die Bibel oder der Koran enthalten ebenfalls nicht veränderbare Formulierungen. Gibt es Berührungspunkte zwischen gehörlosen Menschen und diesen Bereichen, so wird auch in Gebärdensprache ein erstarrtes Register gebildet. Ein Beispiel für einen erstarrten religiösen Text ist das ‘Vater unser im Himmel’.
Aufgrund des noch geringen Stellenwerts des erstarrten Registers in der Gebärdensprache liegt der Fokus in den folgenden Kapiteln auf den anderen vier Registern und den dazu vorliegenden Daten.
Es lässt sich feststellen, dass die folgenden fünf Sprachregister, die der amerikanische Linguist Joos (1961/62) für die gesprochene Sprache vorgeschlagen hat, auch für die Gebärdensprache hilfreich sind:
Eine der oben erwähnten kleineren Studien beziehungsweise Beobachtungen wurde mit den Teilnehmenden der Gebärdensprachlehrer:innen-Ausbildung 1990-1993 mit der Lehrenden Penny Boyes Braem durchgeführt. Um das Thema Sprachregister zu untersuchen, wurden Videoaufnahmen von den Teilnehmenden gemacht. Grundlage für die Studie war die Forschung von Martin Joos:
Joos, Martin (1961/62.) The Five Clocks, Bloomington: Indiana University research Centre in Anthropology, Folklore, and Linguistics. Reprinted in 1967 by Harcourt Brace & World, New York.
Joos beschreibt in seiner Einführung in die Kommunikation fünf Sprachregister, die in den folgenden Kapiteln erläutert werden. In der erwähnten Ausbildungsgruppe wurde anhand der Videoaufnahmen gemeinsam untersucht, ob diese fünf Sprachregister auch in der DSGS vorhanden sind.
Nachfolgend eine Auswahl weiterer kleinerer Studien zu Register und Stil in DSGS:
Boyes Braem, Penny & Tissi, Katja (2023). In Your Face: Im/politeness in signed languages, with examples from Swiss German Sign Language (DSGS). In Jucker, Andreas H. / Hübscher, Iris / Brown, Lucien (Hrsg.). Multimodal Im/politness: Signed, spoken, written. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. 27–63.
Jauch, Claudia (1994). Eine Studie der nonverbalen Kommunikation beim Erzählen eines Erlebnisses in Deutschschweizerischer Gebärdensprache. (VUGS Informationsheft Nr. 25, https://www.fzgresearch.org/PDF_VUGS/(25)%20Jauch%201994.pdf.
Zum Thema Sprachregister in Gebärdensprache liegen kaum Studien/Forschungsergebnisse vor. In der Deutschschweiz wurden dazu nur folgende kleineren Forschungsprojekte durchgeführt:
– Beobachtungen im Rahmen einer Gebärdensprachlehrer:innen-Ausbildung
– Bachelorarbeiten im Studiengang Gebärdensprachdolmetschen
– weitere kleinere Projektarbeiten, welche das Thema Sprachregister in Gebärdensprache behandeln.
Im Kapitel 16 Literatur werden einige davon aufgeführt.
In der Gebärdensprache wird – wie in der gesprochenen Sprache auch – zwischen verschiedenen Sprachregistern unterschieden. Das sprachliche „Register“ ist die Art und Weise, wie eine Person zu einem Publikum/einer anderen Person spricht/gebärdet. Das Register kann von sehr „formell“ bis sehr „informell“ variieren.
Das Sprachregister ist abhängig vom jeweiligen Kontext und von den an einem Gespräch beteiligten Personen. Folgende Kriterien beeinflussen das Sprachregister:
Vertrautheit beziehungsweise Nähe/Distanz zwischen den Beteiligten
Es spielt eine Rolle, ob sich die Beteiligten sehr nahe sind, sich sehr gut kennen oder ob sie sich fremd sind und somit eine Distanz zwischen ihnen besteht.
Alter der Beteiligten
Das gewählte Sprachregister ist abhängig vom Alter der Beteiligten, also vom Alter einer Einzelperson oder den Mitgliedern einer Gruppe. Eine Gruppe kann altershomogen oder altersheterogen sein.
Anzahl der Beteiligten
Es spielt eine Rolle, ob es sich bei den Beteiligten um eine kleine Gruppe oder um eine grosse Gruppe handelt oder ob die gebärdende Person nur ein Gegenüber hat.
Ort/Öffentlichkeitsgrad des Gesprächsanlasses:
Ob die Gesprächssituation in der Öffentlichkeit (Vortrag, Bildungsanlass, usw.), zu Hause im privaten Rahmen oder draussen stattfindet, hat einen Einfluss auf das Sprachregister.
Simultane Komponenten der Gebärdensprache
Wie die Lautsprachen setzen sich auch die Gebärden aus einem System von Basisbausteinen zusammen. Gebärdensprachen sind sehr multimodal, d. h. sie nutzen viele Kanäle, um sprachliche Informationen zu übermitteln.
Die Basisbausteine der Gebärdensprachen lassen sich in fünf gleichzeitig produzierte Parameter unterteilen: Handform, Handstellung, Ausführungsstelle, Bewegung und nicht-manuelle Komponenten, NMK (Form und Bewegung des Oberkörpers, des Kopfes, des Gesichts, des Mundes als Mundform oder Mundbild, sowie mit der Richtung des Blicks). Abbildung 2 zeigt die gleichzeitigen Parameter einer Gebärde. Die Veränderung der Komponenten dieser Parameter kann die Bedeutung der Gebärde verändern.
Abb. 2: Gleichzeitige Parameter als Bausteine der Gebärde.
Diese Parameter lassen sich in eine beschränkte Anzahl weiterer Komponenten unterteilen, deren Zusammensetzung von Sprache zu Sprache variiert. Durch die Begrenzung der Zahl der Komponenten ist die Sprache leichter zu erlernen, nicht nur für Kinder. Der Deutschschweizerische Gebärdensprache steht zum Beispiel ein Set von Handformen zur Verfügung, das sich leicht von dem der Amerikanischen oder Italienischen Gebärdensprache unterscheidet. Die Ausführungsstelle bezieht sich auf den Ort, an dem die Gebärde ausgeführt wird, und zwar nicht nur am Körper selbst, sondern auch im dreidimensionalen Raum, in dem die Gebärdensprache gebildet wird. Anders als bei Pantomimen, die eine ganze Bühne als Raum nutzen können, bilden Anwender der Gebärdensprache praktisch alle Bewegungen in einem begrenzten Raum, dem sogenannten Gebärdenraum (Siehe Abb. 3)
Abb.3: Gebärdenraum (Bild: Katja Tissi)
Sukzessive Komponenten der gesprochenen Sprache
Bei all diesen Ähnlichkeiten in den Funktionen und einigen Strukturen der Gebärden- und der gesprochenen Sprache gibt es doch wichtige Unterschiede. Die meisten dieser Unterschiede ergeben sich aus der unterschiedlichen Modalität, in der die Sprachen wahrgenommen und produziert werden. Gesprochene Sprachen sind für eine akustische/orale Modalität strukturiert, während Gebärdensprachen für eine visuelle/körperliche Bewegungsmodalität strukturiert sind.
Gesprochene Sprachen werden mit Mechanismen des Mund- und Atmungsapparates produziert, was ihre Strukturen beeinflusst. Ihre wichtigsten Bedeutungseinheiten werden sukzessive produziert, eine nach der anderen, in den Einheiten der Wörter und Wortteile (Morpheme). Siehe das Beispiel in Abb. 1.
Abb. 1: Aufeinanderfolgende Komponenten in einem gesprochenen Satz
Wird eine lexikalisierte Gebärde im Singular im neutralen Raum ausgeführt, so kann diese zur Pluralbildung wiederholt werden. Zwingend ist diese Form der Pluralbildung aber nicht. Anstelle der Wiederholung der lexikalisierten Gebärde kann diese auch nur einmal ausgeführt werden und anschliessend wird eine produktive Gebärde – der Substitutor für die lexikalisierte Gebärde – an unterschiedlichen Loki ausgeführt:
(a)
HAUS PROD-sub-Haus-stehen (a-b-c-d: 4x) 00:26-00:28
‘Häuser’
Zunächst wird die Gebärde ‘HAUS’ gebildet und danach wird der entsprechende Substitutor an unterschiedlichen Loki ausgeführt.
(b)
IX-unten GARAGE IX-1(ICH) DA DREI VELO PROD-sub-Velo-hängen 00:32-01:10
‘In meiner Tiefgarage hängen drei Fahrräder.’
Hier wird zunächst die Gebärde ‘VELO gebildet und danach wird der entsprechende Substitutor an unterschiedlichen Loki ausgeführt.
Um einen Plural zu bilden, kann auch ein Manipulator wiederholt werden:
(c)
MÄDCHEN FEST COCA-COLA PROD-man-trinken (3x) II 00:43-00:46
‘Dieses Mädchen trinkt ständig Cola.’
In diesem Beispiel wird eine wiederholte Handlung durch die Wiederholung des entsprechenden Manipulators ausgedrückt.
Beide Beispiele (b) und (c) verweisen auf Pluralität; in den Beispielen (a) und (b) handelt es sich um Pluralität einer Namens-/Hauptgebärde («Nomen»), in Beispiel (c) um Pluralität einer Handlung/Aktion.
Es folgen zwei weitere Beispiele von Pluralität einer Handlung/Aktion anhand des Verbs ‘FRAGEN’. Es handelt sich um ein übereinstimmendes Verb, die Grundform kann also modifiziert werden:
(d)
BEIDE-a/b GEST-viel a-FRAGEN-b(3x) < > b-FRAGEN-a(3x) II 01:08-01:10
‘Diese zwei Personen fragen sich gegenseitig abwechselnd ja wirklich sehr viel.’
In Gebärdensprache wird diese Aussage als Handlung/Aktion formuliert, im Deutschen hingegen finden sich eher Nominalisierungen:
‘Zwischen diesen beiden Personen gehen ja unzählige Fragen hin- und her.’
Das Beispiel kann einen Plural (‘FRAGEN’, ‘FRAGEN’, …) enthalten. Es ist aber nicht eindeutig ersichtlich, ob es sich bei der Wiederholung des Verbs wirklich um einen Plural handelt oder ob die Wiederholung eine zeitliche Information (Häufigkeit) enthält.
Zu beachten ist dabei der Kontext. So verweist das Beispiel (e) eher auf eine Häufigkeit, Beispiel (f) eher auf einen Plural:
(e)
BEIDE-a/b a-FRAGEN-b(2x) < > b-FRAGEN-a(2x) DURCH II 01:49-01:52
‘Zwischen diesen beiden Personen gehen ständig unzählige Fragen hin- und her.’
Die Gebärde ‘DURCH’ (‘ständig’) verweist eher auf eine wiederholte Handlung im zeitlichen Verlauf, also auf die Häufigkeit der Handlung.
(f)
BEIDE-a/b a-FRAGEN-b(2x) < > b-FRAGEN-a(1x) GEST-AU UNGLAUBLICH II 01:56-01:59
‘Zwischen diesen beiden Personen gehen unzählige Fragen hin- und her, das ist ja unglaublich.’
Dieses Beispiel verweist eher auf einen Plural.
Namens-/Hauptgebärden («Nomen») (Personen, Sachen, Tiere, Ideen) können durch Reduplikation (Wiederholung) in den Plural gesetzt werden. Dabei müssen Bewegung und Ausführungsstelle beachtet werden. Die Ausführungsstelle bietet mehr Modifikationsmöglichkeiten (unterschiedliche Ausführungsstellen) als die Bewegung.
Soll ‘HAUS’ in den Plural gesetzt werden, so kann die Gebärde mehrmals wiederholt werden. Mit einer Wiederholung am selben Ort wird die Bewegung insgesamt jedoch zu lange. Da die Gebärde im Singular im neutralen Raum ausgeführt wird, wird sie zur Pluralbildung an unterschiedlichen Ausführungsstellen wiederholt:
(a)
HAUS-a HAUS-b HAUS-c HAUS-d 00:44-00:47
‘Häuser’
Die Gebärde ‘HAUS’ wird an unterschiedlichen Ausführungsstellen wiederholt.
(b)
LAMPE-a LAMPE-b-c-d-e(4x) 01:01-01:03
‘Lampen’
Die Gebärde ‘LAMPE’ wird an unterschiedlichen Ausführungsstellen wiederholt.
Sie könnte auch mit zwei Händen synchron an unterschiedlichen Ausführungsstellen wiederholt werden:
(c)
LAMPE-a(2Hände) LAMPE-b-c-d(2Hände)3x 01:08-01:10
‘Lampen’
Für die Pluralbildung von Gebärden, welche im Singular im neutralen Raum ausgeführt werden, gibt es also zahlreiche Möglichkeiten.
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