Bei multidirektionalen Übereinstimmungsverben wie ‘FRAGEN’, ‘ERKLÄREN’ oder ‘TELEFONIEREN’ beginnt die Bewegung immer beim Subjekt und endet beim Objekt:

 

(a) 1FRAGEN3    00:33-00:34

‘Ich frage ihn/sie.’

 

Multidirektionale Übereinstimmungsverben sind für jede grammatische Person modifizierbar, d.h. die Bewegung ist in Richtung aller Referent:innen ausführbar:

 

(b) 3FRAGEN1   00:50

‘Er/sie fragt mich.’

 

(c) 3FRAGEN2   00:53-00:55

‘Er/sie fragt dich.’

 

(d)  2FRAGEN1   00:58-00:59

‘Du fragst mich.’

 

(e)  3aFRAGEN3b    01:03-01:05

‘Er/sie fragt ihn/sie.’

 

(f) 3bFRAGEN3a   01:05-01:18

‘Er/sie fragt ihn/sie.’

Übereinstimmende Verben bewegen sich zwischen verschiedenen Punkten (oder Loki) im Gebärdenraum, welche unterschiedliche Referent:innen repräsentieren (siehe Kapitel 2). In der Regel beginnt die Bewegung bei dem Punkt, welcher das Subjekt repräsentiert und endet bei jenem Punkt, welcher für das direkte oder indirekte Objekt steht. Es gibt aber auch übereinstimmende Verben, bei denen es sich genau umgekehrt verhält, die Bewegung also beim Objekt beginnt und beim Subjekt endet (= umgekehrte Übereinstimmung).

Einige Übereinstimmungsverben können für jede grammatische Person modifiziert werden. Diese Verben sind multidirektional, d. h. die Bewegung kann zu und von den Bezugspunkten aller Personen erfolgen.

Bei anderen Verben ist die Bewegung teilweise-direktional, d. h. sie kann nur in die Richtung bestimmter Referent:innen erfolgen, was bedeutet, dass sie nicht für jede grammatische Person modifiziert werden kann. Grund für eine nur teilweise-direktionale Modifikation sind physiologische Gegebenheiten wie der eingeschränkte Bewegungsradius des Handgelenks.

Übereinstimmende Verben sind lexikalisierte Gebärden wie ‘FRAGEN’, ‘ERKLÄREN’, ‘TELEFONIEREN’ oder ‘ANTWORTEN’. Um die Übereinstimmung (Kongruenz) zwischen Verb, Subjekt und Objekt darzustellen und Informationen zu Person und Numerus zu vermitteln, werden Handstellung, Bewegung und Ausführungsstelle flektiert.

 

Beispiele: Nicht-modifizierte Grundformen einiger Übereinstimmungsverben

 

(a) FRAGEN   00:07-00:08

(b) ERKLÄREN   00:08-00:09

(c) TELEFONIEREN   00:10-00:11

(d) ANTWORTEN00:11-00:12

Das einfache Verb kann im Satz an unterschiedlicher Stelle stehen. Folgende Anordnungen von Subjekt, Objekt und einfachem Verb sind korrekt: S-O-V, S-V-O und O-S-V. Dazu je ein Beispiel:

 

(a) S-O-V

ICH   BROT   KAUFEN  ||   00:42-00:44

‘Ich kaufe (ein) Brot.’

 

Das einfache Verb ‘KAUFEN’ steht am Schluss des Satzes.

 

(b) S-V-O

ICH   KAUFEN   BROT  ||   00:53-00:55

‘Ich kaufe Brot.’

 

Diese Reihenfolge ist üblich, wenn in der folgenden Aussage unmittelbar wieder auf das Objekt Bezug genommen wird wie in folgendem Beispiel:

 

(c) S-V-O

ICH   KAUFEN   BROT   IX-3  ||   IX-3  FEIN  Geste(sehr)  TEUER  IX-3  ||    01:03-01:07

‘Ich kaufe Brot. Es ist sehr fein, aber auch recht teuer.’

 

(d) O-S-V

BROT  |  ICH   IX-3   KAUFEN  ||   01:18-01:20

‘Brot kaufe ich.’

 

Um das Objekt zu betonen, es zum Thema des Satzes zu machen, wird es an den Anfang gestellt. Anschliessend folgt der Kommentar beziehungsweise die Aussage (Rhema) zum eingeführten Thema (Topikalisierung). Die thematische Hervorhebung wird mimisch, die Unterscheidung zwischen Thema und Rhema durch die unterschiedliche Haltung des Kopfes/Oberkörpers markiert.

Zu gewissen Verben der zweiten Kategorie muss das Hilfsverb PAM (‘person agreement marker’, Personenkongruenzmarker) hinzugefügt werden, um die Übereinstimmung von Verb und zuvor verorteten Referent:innen (Subjekt, Objekt) aufzuzeigen:

 

Personenkongruenzmarker PAM

01:48-01:49 / 01:56-01:57

 

Das Hilfsverbs PAM drückt durch die Bewegung des Handgelenks aus, wer die Handlung ausführt (Agens) und wer von der Aktion oder Handlung betroffen ist (Patiens oder Rezipient). Der Handrücken zeigt dabei immer in Richtung Subjekt (Agens), die Handfläche am Ende der Bewegung in Richtung Objekt (Patiens). Das Hilfsverb PAM folgt unmittelbar auf das Verb.

 

Dazu je ein Beispiel mit den Verben ‘LÜGEN’ und ‘MÖGEN’:

IX-3a   LÜGEN   aPAMb   ||   01:44-01:47

‘Er/sie lügt ihn/sie an.’

 

Das Hilfsverb PAM zeigt also auf, wer Subjekt und wer Objekt ist beziehungsweise welche der beiden Referent:innen die handelnde Person (Agens) ist und welche von der Aktion oder Handlung betroffen (Patiens) ist.

 

IX-3a   GERN-HABEN   aPAMb   ||   01:53-01:55

‘Er/sie mag ihn/sie.’

 

Das Hilfsverb PAM, welches zu gewissen einfachen körpergebunden Verben hinzugefügt wird, kann mit folgenden zwei Handformen ausgeführt werden:

 

(a) Handform 1

00:16-00:17

 

(b) Handform 2

00:18-00:19

 

Die erste Handform (a) ist nicht zu verwechseln mit der Gebärde ‘PERSON’.

 

‘PERSON’

00:25-00:26

 

PAM und ‘PERSON’ werden mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen ausgeführt und haben eine je andere Funktion beziehungsweise Bedeutung.

 

Das Hilfsverb PAM kann mit der dominanten wie auch mit der nichtdominanten Hand ausgeführt werden.

Bei einfachen Verben handelt es sich um lexikalisierte Gebärden wie ‘SCHLAFEN’, ‘KAUFEN’, ‘SPIELEN’, ‘LESEN’, ‘DENKEN’, ‘LÜGEN’ oder ‘ARBEITEN’. Die Parameter Handform, Handstellung und Bewegung werden nie flektiert (grammatikalisch verändert). Einzig die Ausführungsstelle ist bei gewissen Verben modifizierbar (veränderbar).

 

Beispiele: Einige einfache Verben:

 

(a) SCHLAFEN   00:08-00:09

(b) KAUFEN   00:09-00:10

(c) SPIELEN   00:11-00:12

(d) LESEN   00:13-00:14

(e) DENKEN   00:14-00:15

(f) LÜGEN   00:16-00:17

(g) ARBEITEN   00:18-00:19

 

Die einfachen Verben lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Die eine Kategorie umfasst Verben, welche im neutralen Gebärdenraum ausgeführt werden. Dazu gehören zum Beispiel ‘ARBEITEN’, ‘SPIELEN’, ‘LESEN’ und ‘KOCHEN’. Zur anderen Kategorie zählen körpergebundene Verben wie ‘SCHLAFEN’, ‘LÜGEN’, ‘ESSEN’ und ‘DENKEN’.

Bei Verben der ersten Kategorie kann die Ausführungsstelle im Gebärdenraum leicht modifiziert werden. Folgender Satz veranschaulicht diese Möglichkeit:

ICH HEUTE  MORGEN  IXa   ARBEITENa  |  ABEND  ICH  IXb    KOCHEN||   01:14- 01:18

‘Heute Vormittag arbeite ich, am Abend werde ich kochen’.

Die Verben ‘ARBEITEN’ und ‘KOCHEN’ werden in diesem Beispiel nicht vor dem Oberkörper, sondern links und rechts ausgeführt, da mit den Tätigkeiten unterschiedliche Orte assoziiert werden.

Eine Handlung beziehungsweise Aktion wird durch ein Verb ausgedrückt. Es werden folgende Verbarten unterschieden: Einfache Verben, übereinstimmende Verben, Ortswechsel- und Pfad-Verben, Hilfsverben, produktive Verbformen und Modalverben. Verben können mit zusätzlichen Informationen gleichzeitig angereichert werden.

Um die Unterschiede zwischen Teilnehmenden- und Erzähl-Perspektive nochmals hervorzuheben, folgen drei Beispiele mit gleichem Inhalt. Dieser wird einmal ohne Rollenwechsel aus der Erzähl-Perspektive wiedergegeben (a), einmal als CD (b) und einmal als CD und CA(c) (möglich wäre es auch, eine Sequenz nur als CA darzustellen, wenn lediglich eine Handlung wiedergegeben werden soll).

00:47

 

Erzähl-Perspektive:

(a)

Erz: ARBEIT   KOLLEGE   IX-3a   CHEF   IX-3b   3bFRAGEN3a  |  OB   GESTERN   SITZUNG   GUT   LAUFEN  jn? ||  IX-3a   SAGEN   GUT   LAUFEN   |   ZWEI   PERSONpl   KRANK   ||   IX-3b   AHA(nicken) ||    00:00-00:14

 

‘Der/die Vorgesetzte fragt den/die Arbeitskolleg:in, ob die Sitzung gestern gut verlaufen sei. Diese/r meint, es sei alles gut verlaufen, zwei Personen seien aber krank gewesen. Letzteres nimmt der/die Vorgesetzte zur Kenntnis.’

Die gebärdende Person nimmt in Beispiel (a) eine neutrale Haltung ein.

 

Teilnehmenden-Perspektive: Konstruierter Dialog:

(b)

Erz: ARBEIT   KOLLEGE   IX-3a   CHEF   IX-3b(oben)  Teiln (Chef)CD: 3bFRAGEN3a  GESTERN   SITZUNG   GUT   LAUFEN  jn?  ||  Erz: IX3a    SAGEN  Teiln(Arbeitskolleg)CD:  GUT   LAUFEN   |   ZWEI   PERSONpl   KRANK  IX-3b  Teiln (Chef)CD:  AHA(nicken)  ||     00:00-00:12

 

Der/die Vorgesetzte fragt den/die Arbeitskolleg:in, ob die Sitzung gestern gut verlaufen sei. Diese/r meint, es sei alles gut verlaufen, zwei Personen seien aber krank gewesen. Letzteres nimmt der/die Vorgesetzte zur Kenntnis.’

 

Die gebärdende Person übernimmt in Beispiel (b) die Rollen der beiden Gesprächsteilnehmenden, so als würde die Interaktion gerade jetzt stattfinden und modifiziert die übereinstimmenden Verben.

 

Teilnehmenden-Perspektive: Konstruierter Dialog und konstruierte Aktion:

(c)

Erz: ARBEIT   KOLLEGE   IX-3Teiln(Arbeitskolleg)CD/CD: PROD-tippen(Schreibojekt)  Erz: CHEF   3KOMMENl    TISCH  Teiln(Chef)CA/CD: PROD-klopfen(Tisch)  |   GESTERN   SITZUNG   GUT   LAUFEN  jn?  ||  Teiln(Arbeitskolleg)CD/CD: PROD-tippen(Schreibojekt)  | AH  |   SITZUNG   GUT  LAUFEN   ZWEI   PERSONpl   KRANK   PROD-tippen(Schreibojekt)   IX-3 Teiln(Chef)CD:  AHA(nicken)  |  Erz: GEHEN-WEG  ||  00:00-00:16

 

Der/die Vorgesetzte fragt den/die Arbeitskolleg:in, ob die Sitzung gestern gut verlaufen sei. Diese/r meint, es sei alles gut verlaufen, zwei Personen seien aber krank gewesen. Letzteres nimmt der/die Vorgesetzte zur Kenntnis.’

 

Die gebärdende Person übernimmt die Rollen der beiden Gesprächsteilnehmenden, so als würde die Interaktion gerade jetzt stattfinden. Sie gibt die Handlungen der beiden wieder, als würde sie diese gerade jetzt selbst ausführen. Somit entfallen auch die übereinstimmenden Verben.

Beim Rollenwechsel müssen die Verben besonders beachtet werden. Wird eine Sequenz als CD oder CA wiedergegeben, so werden die Verben modifiziert.

 

Zunächst ein Beispiel mit dem übereinstimmenden Verb ‘FRAGEN’ ohne Rollenwechsel:

(a) Erz:  MANN   IX-3a   FRAU   IX-3b    3bFRAGEN3a    ||   00:27-00:31

‘Die Frau fragt den Mann.’

Die gebärdende Person in Beispiel (a) nimmt eine neutrale Haltung ein. Das übereinstimmende Verb ‘FRAGEN’ bewegt sich vom Startpunkt, der das Subjekt repräsentiert (Frau) in Richtung des Endpunkts, der das Objekt (Mann) repräsentiert.

 

Derselbe Inhalt als CD wird folgendermassen gebärdet:

(b) Erz:  MANN   IX-3a   FRAU   IX-3b  Teiln(Frau)CD:  1FRAGEN3a   ||  00:42-00:45

‘Die Frau fragt den Mann.’

In diesem Beispiel (b) übernimmt die gebärdende Person die Rolle der Frau: Sie bewegt ihren Oberkörper in Richtung des Ortes im Gebärdenraum, welcher zuvor der Frau zugewiesen wurde und dreht sich in die Richtung des Ortes im Gebärdenraum, welcher zuvor dem Mann zugewiesen wurde. Ausgehend von dieser Position bewegt sich das Verb ‘FRAGEN’ in Richtung Verortung ‘MANN’.

 

Ein weiteres Beispiel eines übereinstimmenden Verbs in einem CD:

(c) Erz: IX-3a   MANN  Teiln(Mann)CD: 1ANTWORTEN3b    ||   00:59-01:01

‘Der Mann antwortet (der Frau)’

In diesem Beispiel (c) übernimmt die gebärdende Person die Rolle des Mannes: Sie bewegt ihren Oberkörper in Richtung des Ortes im Gebärdenraum, welcher zuvor dem Mann zugewiesen wurde und dreht sich in die Richtung des Ortes im Gebärdenraum, welcher zuvor der Frau zugewiesen wurde. Ausgehend von dieser Position bewegt sich das Verb ‘ANTWORTEN’ in Richtung Verortung ‘FRAU’.

 

Im folgenden Beispiel (d) aus CD und CA wird die Frage der Frau an den Mann als CA wiedergegeben:

(d) Erz: MANN   IX3a   FRAU    IX3b Teiln(Frau)CD: Geste-winken3b(zu Mann) |   WAS   MACHEN   DU   PALM-UP   w? ||    01:11-01:15

‘Die Frau fragt den Mann, was er mache.

Das übereinstimmende Verb ‘FRAGEN’ entfällt, da die gebärdende Person die Handlung des Fragens ausführt, als wäre sie selber die Frau.

Mit dem Rollenwechsel werden oft die realen räumlichen Gegebenheiten und Verhältnisse wiedergegeben. Dabei können unterschiedliche Blickwinkel und Bildausschnitte gewählt werden, so wie im Film die Kameraperspektiven und Einstellgrössen variieren können.

 

Die Übergänge zwischen Teilnehmenden- und Erzähl-Perspektive sind fliessend. Die tatsächlichen Raumverhältnisse werden auf diesem Kontinuum daher mehr (teilnehmend) oder weniger (erzählend) realitätsnah rekonstruiert.

Skip to content