Jeder Mensch, der eine gesprochene Sprache benutzt, produziert Mundbilder. Diese werden jedoch klein und schnell ausgeführt. In der gesprochenen Sprache spielen sie eine untergeordnete Rolle, da akustische Informationen (Töne, Stimme, Sprachmelodie) relevanter sind.
Mit Eintritt in die Schule lernen alle Kinder die Standardsprache Deutsch, auch lesen und schreiben. In diesem Zusammenhang wird ihnen – auch gehörlosen Kindern – der Unterschied zwischen Vokalen (A, E, I, O, U) und Konsonanten (M, N, L, S usw.) vermittelt. Gehörlose Kinder sind auf ein sehr deutliches Mundbild angewiesen, um gesprochene Wörter verstehen und die Abgrenzung einzelner Wörter voneinander (Anfang und Ende eines Wortes) erkennen zu können. Vokale sind einfacher ablesbar als Konsonanten.
Im Laufe der Zeit und ihm Zuge der zunehmend gebärdensprachlichen Kommunikation unter Gehörlosen haben sich die Mundbilder verändert. Heute lassen sich drei Arten von Mundbildern unterscheiden:
– Mundbild als genaue Entsprechung des deutschen Wortes.
– Reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen Teil eines deutschen Wortes wieder.
– Sehr stark reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen geringen Teil eines deutschen Wortes wieder.
Die Verwendung dieser unterschiedlichen Arten von Mundbildern folgt bestimmten Konventionen.
Der Begriff Mund-Bild kommt daher, dass Wörter der deutschen Sprache auf dem Mund einer gebärdenden Person – stimmlos – abge-bild-et werden. Ein deutliches Mundbild erleichtert das Ablesen von den Lippen.
Das Verwenden von Mundbildern ist nur im historischen Kontext zu verstehen. Die Bildung gehörloser Menschen in der Deutschschweiz war in der Zeit von 1870 bis 1920 sehr lautsprachlich geprägt. D.h. der Fokus lag darauf, das deutliche Sprechen und das Ablesen zu trainieren. Gebärden hatten damals einen geringen Stellenwert, Mundbilder waren daher ein wesentlicher Bestandteil der Verständigung.
Es gibt unterschiedliche Arten von Mundbildern. Nicht alle Mundbilder sind eine genaue Entsprechung eines deutschen Wortes. Auch kann die zeitliche Übereinstimmung von Gebärde und Mundbild sehr unterschiedlich sein. Ein Mundbild kann synchron oder asynchron zu einer Gebärde ausgeführt werden.
Mundbilder und Mundformen sind Bestandteile der gebärdensprachlichen Kommunikation der Gemeinschaft der Gehörlosen. Der Unterschied zwischen Mundbild und Mundform besteht darin: Mundbilder sind von der deutschen Sprache beeinflusst, ihr entlehnt; deutsche Wörter finden sich – stimmlos – auf dem Mundbild wieder. Mundformen hingegen stehen in keinem Zusammenhang mit der deutschen Sprache; die Bewegungen des Mundes verleihen den Gebärden eine zusätzliche Bedeutung. Sowohl Mundbilder wie auch Mundformen zählen zu den nichtmanuellen Komponenten (wie auch die Mimik und die Bewegung des Oberkörpers).
Es liegt noch wenig gesichertes Wissen zum Thema Mundbilder und Mundformen vor, zu ihren jeweiligen Funktionen oder dazu, ob/wie sie zueinander in Beziehung stehen beziehungsweise wie sie mit den Gebärden, die sie begleiten, in Beziehung stehen. Die folgenden Aussagen zum Thema Mundbilder und Mundformen basieren auf Beobachtungen und Erfahrungen.
Dass eine Eigenschaft fast maximal ausgeprägt ist, wird durch die lexikalisierte Gebärde ‚LEUCHTEND‘ (ein- oder zweihändige Ausführung möglich) angezeigt. Sie kommt meist beim Vermitteln der Qualität einer Eigenschaft zur Anwendung (Qualität einer Farbe, Schärfe eines Bildes). Dazu zwei Beispiele:
(a)
FERNSEHEN IX-1(ICH) HINGEHEN WILL KAUFEN IX(links, oben) FERNSEHEN LEUCHTEND IX(li, o.) ALS IX(re:++)
00:23-00:29
‚Ich will mir einen Fernseher kaufen und schaue mir im Laden verschiedene an. Der eine hat im Vergleich zu den anderen ein sehr viel schärferes Bild.‘
(b)
DREI AUTO IX+++(links > rechts) IX(li) ROT IX(mitte) MEHR ROT IX(re) ROT LEUCHTEND IX(re) II
00:36-00:42
‚Von den drei Autos ist das erste rot, das zweite ist roter als das erste und das dritte ist knallrot.‘
ass die rote Farbe des dritten Autos dem möglichen Maximum nahekommt, wird durch die lexikalisierte Gebärde ‚LEUCHTEND‘ ausgedrückt.
Eine Alternative zur lexikalisierten Gebärde ‚WIRKLICH‘ ist die lexikalisierte Gebärde ‚STARK‘.
Die Gebärde ‚STARK‘ hat eine ähnliche Bedeutung wie die Gebärde ‚WIRKLICH‘. Worin der genaue Unterschied zwischen beiden Gebärden besteht, ist schwierig zu formulieren. Eine Betonung mit der Gebärde ‚WIRKLICH‘ ist vielleicht etwas sachlicher, eine Betonung mit der Gebärde ‚STARK‘ ist gewichtiger. Der Unterschied ist aber minim. Es folgen zwei Beispiele mit der Betonung ‚STARK‘:
a)
HEUTE ABEND IX-1(ICH) KURS BESUCHEN IX-1(ICH) STARK FREUDE II
00:33-00:37
‘Heute Abend gehe ich in einen Kurs. Darauf freue ich mich also wirklich sehr.
Die Freude wird betont, ist gross beziehungsweise grösser als eine angenommene Vergleichsnorm beziehungsweise das Positiv.
b)
MANN IX(li) STARK COCA-COLA PROD-TRINKEN+++ II
Würden
00:49-00:52
‘Dieser Mann trinkt also wirklich aussergewöhnlich viel Coca Cola.’
Auch in diesem Beispiel wird betont, dass es sich beim Verhalten des Mannes nicht um die Norm handelt.
Eine Eigenschaft (oder auch die Art und Weise einer Handlung) kann betont werden durch das Hinzufügen der lexikalisierten Gebärde ‚WIRKLICH‘.
Damit wird ausgedrückt, dass die Eigenschaft bei einer Referent:in/einem Referenten stärker ausgeprägt ist als bei einer anderen/einem anderen:
a)
BUB IX(links) FRECH IX(li) II MÄDCHEN IX(re) WIRKLICH FRECH IX(re) II
00:43-00:48
‚Der Junge ist frech, aber das Mädchen ist noch viel frecher.‘
b)
MANN IX(li) WIRKLICH ARBEITEN(nmk:viel/hart) II
00:54-00:57
‚Der Mann arbeitet wirklich unglaublich viel.‘
In diesem Beispiel erfolgt ein impliziter Vergleich an einer angenommenen Norm für „normales“ Arbeiten.
Die Ausprägung einer Eigenschaft beschränkt sich nicht auf die 3 unterschiedlichen Grade Positiv (‚gross‘, ‚‘klein‘, lieb‘ usw.), Komparativ (Vergleich: ‚mehr als‘, ‚weniger als‘) und Superlativ (‚am meisten‘, am besten‘ usw.).
Durch die Verbindung einer Gebärde für eine Eigenschaft (‚schnell‘, ‚langsam‘, ‚gross‘, ‚klein‘, ‚klug‘ usw.) mit der Gebärde ‚BESTE‘ wird ihre maximale Ausprägung ausgedrückt.
Die Gebärde ‚BESTE‘ kann vor (a) oder nach der Gebärde (b) für die Eigenschaft stehen:
(a)
IX-1(ICH) BÄCKER(mb:bäckerei) IX-1(ICH) HINGEHEN I FEIN KUCHEN IX+++(links-rechts) II
IX(li) MEHR FEIN ALS IX(mitte) IX(re) BESTE FEIN IX(bestimmt, re) II
00:35-00:47
‚In der Auslage der Bäckerei sehe ich viele leckere Kuchen. Der Kuchen links scheint mir feiner als der in der Mitte. Aber am feinsten scheint mit der Kuchen ganz rechts.‘
(b)
KUCHEN IX(bestimmt, re) FEIN BESTE IX(bestimmt, re) II
00:49-00:51
‚Dieser ist der feinste Kuchen.‘
Unterschiedliche Eigenschaften (‚gross‘, ‚lieb‘,‘ rot‘, usw.) von Referent:innen können in ihrer neutralen Form (im Deutschen ‚Positiv‘) miteinander oder bezüglich ihrer Ausprägung (im Deutschen ‚Komparativ, ‚mehr als‘, ‚weniger als‘) verglichen werden. Das Maximum der Ausprägung einer Eigenschaft (im Deutschen ‚Superlativ‘) kann durch unterschiedliche lexikalisierte Gebärden ausgedrückt werden.
Auch Brüche ( ½ , ¾ ) können miteinander verglichen werden
( ‚ ⅓ mehr als … .‘ ‚ ¼ weniger … .‘).
Wie und auf welcher räumlichen Ebene der Vergleich (höher, breiter …) in Gebärdensprache visualisiert wird, ist kontextabhängig. Dazu ein Beispiel:
(a)
IX(mitte) STRASSE(breit) 1/3 PROD-BREIT(ganz3/3) > 1/3“weniger“ II
00:27-00:31
‚Diese Strasse ist ⅓ weniger breit.‘
Zunächst wird die Gesamtbreite der Strasse als Referenz angegeben . Danach rückt die aktive Hand um ⅓ in Richtung passive Hand, so dass die verbleibenden ⅔ sichtbar werden. Ohne diese zusätzliche Visualisierung wäre die Aussage nicht eindeutig.
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