Mundbilder und Mundformen sind Bestandteile der gebärdensprachlichen Kommunikation der Gemeinschaft der Gehörlosen. Der Unterschied zwischen Mundbild und Mundform besteht darin: Mundbilder sind von der deutschen Sprache beeinflusst, ihr entlehnt; deutsche Wörter finden sich – stimmlos – auf dem Mundbild wieder. Mundformen hingegen stehen in keinem Zusammenhang mit der deutschen Sprache; die Bewegungen des Mundes verleihen den Gebärden eine zusätzliche Bedeutung. Sowohl Mundbilder wie auch Mundformen zählen zu den nichtmanuellen Komponenten (wie auch die Mimik und die Bewegung des Oberkörpers).

Es liegt noch wenig gesichertes Wissen zum Thema Mundbilder und Mundformen vor, zu ihren jeweiligen Funktionen oder dazu, ob/wie sie zueinander in Beziehung stehen beziehungsweise wie sie mit den Gebärden, die sie begleiten, in Beziehung stehen. Die folgenden Aussagen zum Thema Mundbilder und Mundformen basieren auf Beobachtungen und Erfahrungen.

Dass eine Eigenschaft fast maximal ausgeprägt ist, wird durch die lexikalisierte Gebärde ‚LEUCHTEND‘ (ein- oder zweihändige Ausführung möglich) angezeigt. Sie kommt meist beim Vermitteln der Qualität einer Eigenschaft zur Anwendung (Qualität einer Farbe, Schärfe eines Bildes). Dazu zwei Beispiele:

(a)
FERNSEHEN   IX-1(ICH)   HINGEHEN   WILL   KAUFEN   IX(links, oben)   FERNSEHEN   LEUCHTEND  IX(li, o.)   ALS    IX(re:++)   
00:23-00:29
‚Ich will mir einen Fernseher kaufen und schaue mir im Laden verschiedene an. Der eine hat im Vergleich zu den anderen ein sehr viel schärferes Bild.‘

(b)
DREI   AUTO   IX+++(links > rechts)   IX(li)  ROT    IX(mitte)   MEHR   ROT   IX(re)   ROT  LEUCHTEND   IX(re)   II
00:36-00:42
‚Von den drei Autos ist das erste rot, das zweite ist roter als das erste und das dritte ist knallrot.‘

ass die rote Farbe des dritten Autos dem möglichen Maximum nahekommt, wird durch die lexikalisierte Gebärde ‚LEUCHTEND‘ ausgedrückt.

Eine Alternative zur lexikalisierten Gebärde ‚WIRKLICH‘ ist die lexikalisierte Gebärde ‚STARK‘.

Die Gebärde ‚STARK‘ hat eine ähnliche Bedeutung wie die Gebärde ‚WIRKLICH‘. Worin der genaue Unterschied zwischen beiden Gebärden besteht, ist schwierig zu formulieren. Eine Betonung mit der Gebärde ‚WIRKLICH‘ ist vielleicht etwas sachlicher, eine Betonung mit der Gebärde ‚STARK‘ ist gewichtiger. Der Unterschied ist aber minim. Es folgen zwei Beispiele mit der Betonung ‚STARK‘:

a)
HEUTE   ABEND   IX-1(ICH)   KURS   BESUCHEN   IX-1(ICH)   STARK   FREUDE   II
00:33-00:37
‘Heute Abend gehe ich in einen Kurs. Darauf freue ich mich also wirklich sehr.

Die Freude wird betont, ist gross beziehungsweise grösser als eine angenommene Vergleichsnorm beziehungsweise das Positiv.

b)
MANN   IX(li)   STARK   COCA-COLA   PROD-TRINKEN+++   II
Würden
00:49-00:52
‘Dieser Mann trinkt also wirklich aussergewöhnlich viel Coca Cola.’

Auch in diesem Beispiel wird betont, dass es sich beim Verhalten des Mannes nicht um die Norm handelt.

Eine Eigenschaft (oder auch die Art und Weise einer Handlung) kann betont werden durch das Hinzufügen der lexikalisierten Gebärde ‚WIRKLICH‘.

Damit wird ausgedrückt, dass die Eigenschaft bei einer Referent:in/einem Referenten stärker ausgeprägt ist als bei einer anderen/einem anderen:

a)
BUB   IX(links)   FRECH   IX(li)   II   MÄDCHEN   IX(re)   WIRKLICH   FRECH   IX(re)  II
00:43-00:48
‚Der Junge ist frech, aber das Mädchen ist noch viel frecher.‘

b)
MANN   IX(li)   WIRKLICH   ARBEITEN(nmk:viel/hart)   II
00:54-00:57
‚Der Mann arbeitet wirklich unglaublich viel.‘

In diesem Beispiel erfolgt ein impliziter Vergleich an einer angenommenen Norm für „normales“ Arbeiten.

Durch die Verbindung einer Gebärde für eine Eigenschaft (‚schnell‘, ‚langsam‘, ‚gross‘, ‚klein‘, ‚klug‘ usw.) mit der Gebärde ‚BESTE‘ wird ihre maximale Ausprägung ausgedrückt.

Die Gebärde ‚BESTE‘ kann vor (a) oder nach der Gebärde (b) für die Eigenschaft stehen:

(a)
IX-1(ICH)   BÄCKER(mb:bäckerei)   IX-1(ICH)   HINGEHEN   I   FEIN   KUCHEN   IX+++(links-rechts)   II
IX(li)    MEHR   FEIN   ALS   IX(mitte)   IX(re)   BESTE   FEIN   IX(bestimmt, re)   II
00:35-00:47
‚In der Auslage der Bäckerei sehe ich viele leckere Kuchen. Der Kuchen links scheint mir feiner als der in der Mitte. Aber am feinsten scheint mit der Kuchen ganz rechts.‘

(b)
KUCHEN   IX(bestimmt, re)   FEIN   BESTE   IX(bestimmt, re)  II
00:49-00:51
‚Dieser ist der feinste Kuchen.‘

Unterschiedliche Eigenschaften (‚gross‘, ‚lieb‘,‘ rot‘, usw.) von Referent:innen können in ihrer neutralen Form (im Deutschen ‚Positiv‘) miteinander oder bezüglich ihrer Ausprägung (im Deutschen ‚Komparativ, ‚mehr als‘, ‚weniger als‘) verglichen werden. Das Maximum der Ausprägung einer Eigenschaft (im Deutschen ‚Superlativ‘) kann durch unterschiedliche lexikalisierte Gebärden ausgedrückt werden.

Auch Brüche ( ½ , ¾ ) können miteinander verglichen werden
( ‚ ⅓ mehr als … .‘ ‚ ¼ weniger … .‘).

Wie und auf welcher räumlichen Ebene der Vergleich (höher, breiter …) in Gebärdensprache visualisiert wird, ist kontextabhängig. Dazu ein Beispiel:

(a)
IX(mitte)   STRASSE(breit)   1/3   PROD-BREIT(ganz3/3) > 1/3“weniger“   II
00:27-00:31
‚Diese Strasse ist ⅓ weniger breit.‘

Zunächst wird die Gesamtbreite der Strasse als Referenz angegeben . Danach rückt die aktive Hand um ⅓ in Richtung passive Hand, so dass die verbleibenden  ⅔  sichtbar werden. Ohne diese zusätzliche Visualisierung wäre die Aussage nicht eindeutig.

 

Prozentangaben können ebenfalls miteinander verglichen werden (‚20% mehr als … .‘, 30% weniger als … .‘). Die lexikalisierte Gebärde ‚PROZENT‘ kann ein- oder zweihändig ausgeführt werden:
(a) ‚PROZENT
00:11-00:12

Die Prozentangaben können sich auf unterschiedliche Grössen beziehen (Fläche, Menge, Gewicht, Tiefe etc.) und grafisch unterschiedlich dargestellt werden (Kuchen-, Säulendiagramm).

Dazu ein mögliches Beispiel:

(b)
POSS-1(MEIN)   PARTNER(mb:mann)   IX(re)   100   PROZENT   VERDIENEN   I   IX-1(ICH)   20   PROZENT   MEHR   ALS   IX(re)   II
00:48-00:55
‚Mein Mann verdient 100%, ich verdiene 20% mehr als er.‘

Im Alltagskontext ist diese Formulierung möglich. Sollen Beträge/Prozentangaben aber präziser dargestellt und miteinander verglichen werden (Verhältnis), so wird in Gebärdensprache die Grösse des ersten Betrags als Referenz für die weiteren Beträge festgelegt. D.h. die weiteren Beträge werden entsprechend kleiner oder grösser als ihre Referenz dargestellt, wie folgendes Beispiel zeigt:

(c)
IX-1(ICH)   100   PROZENT   IX-1(ICH)  BEKOMMEN  
NDH:             PROD-MASS(menge) —————–>
DH:                20   PROZENT         PROD-MASS(menge)-DAVON   MUSS   ZURÜCK   (ich)BEZAHLEN(rechts)   FÜR   ETWAS…. 
01:04-00:13
‚Ich bekomme 100%. Davon muss ich 20% zurückbezahlen für … .‘

Die passive Hand, welche für die erste Prozentangabe steht (100%), wird als Referenz für die zweite Prozentangabe (20%) gehalten. Die aktive Hand liegt innerhalb der passiven. Dies und die folgende Bewegung drücken aus, dass die 20% von den 100% abgezogen werden. Kommen 20% zu den 100% dazu, wird dies wie folgt gebärdet:

Welche Handform benutzt wird, um den Vergleich/das Verhältnis zu visualisieren, ist kontextabhängig.

Anstelle von ‚ZWEI-MAL-MEHR‘ beziehungsweise ‚ZWEI-MAL-WENIGER‘ können die lexikalisierten Gebärden ‚DOPPELT‘ beziehungsweise ‚HÄLFTE‘ benutzt werden. Dazu ein Beispiel:

(a) FIRMA(rechts)   FIRMA(links)   IX(li)   DOPPELT   AUFTRAG++   BEKOMMEN   IX(re)   HALB(mb:hälfte)   AUFTRAG++   WENIG   II
00:26-00:32
‘Die eine Firma erhält doppelt so viele Aufträge wie die andere. (Die andere wenige, nur halb so viele).’

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