Vereinzelt kommt es vor, dass ein reduziertes oder ein stark reduziertes Mundbild wiederholt wird. Damit können unterschiedliche Informationen vermittelt werden. Zwei Beispiele dazu:

(a)
DRAUSSEN   IX-1(ich)   SEHEN   SCHÖN   VIEL   BLUME   PROD-BLÜHEN(mb: b-l-u- b-l-u-b-l-u)
00:17-00:22
‚Ich sehe draussen viele schöne Blumen.‘

Die Gebärde ‚BLUMEN‘ wird von einem Mundbild begleitet. Dass es sich um ganz viele Blumen handelt, wird durch die Wiederholung des – der Gebärde ‚BLUME‘ entsprechenden – Substitutors angezeigt. Jede dieser Wiederholungen wird zudem durch das stark reduzierte Mundbild ‚b-l-u- b-l-u-b-l-u‘ begleitet.

(b)
IX-1(ich)   MÖCHTEN   BILETT   KAUFEN   I   IX-1(ich)   HINGEHEN   IXa   UNGLAUBLICH   PROD-STEHEN-SCHLANGE(mb: l-a-l-a-l-a-l-a)
00:28-00:33
‚Ich möchte ein Ticket kaufen. Als ich zum Schalter komme, sehe ich eine unglaublich lange Menschenschlange davorstehen.‘

Der Substitutor ‚MENSCHSCHLANGE‘ wird in diesem Beispiel mehrmals wiederholt, um die Länge der Warteschlange zu betonen. Jede dieser Wiederholungen wird zudem durch das stark reduzierte Mundbild ‚l-a-l-a-l-a-l-a‘ begleitet.

Die Mundbewegungen in beiden Beispielen bestehen aus einer Mischung aus Mundbild und Mundform und dienen der Betonung der Aussage (‚viele‘, ‚lang‘).

Für folgende Kategorien von Gebärden wird immer ein Mundbild produziert:

– Fragen (‚WIE?‘, ‚WO?‘, ‚WER?‘, ‚WANN?‘)
– Zeitgebärden (‚GESTERN‘, ‚NACHMITTAG‘, ‚FÜNF UHR‘)
– Farben
– Zahlen
– Lexikalisierte Gebärden für Eigenschaften (‚LUSTIG‘, ‚FRECH‘, LIEB‘)
– Satzverbindungen (‚DURCH‘, ‚WENN-DANN‘), die Gebärde ‚ÜBER‘, die Vergleichsgebärde ‚ALS‘

Ob ein Prädikat (s. Kapitel Verben) von einem Mundbild begleitet wird oder nicht, hängt davon ab, wie stark modifizierbar ein Verb ist. Einfache Verben wie zum Beispiel ‚SCHLAFEN‘, ‚ESSEN‘ oder ‚TRINKEN‘ sind nicht modifizierbar und werden oft von einem Mundbild begleitet. Übereinstimmende Verben wie ‚BESUCHEN‘, ‚FRAGEN‘, oder ‚TELEFONIEREN‘ sind bis zu einem gewissen Grad modifizierbar und können, müssen aber nicht, von einem Mundbild begleitet werden. Ortswechsel- und Pfadverben haben oft kein Mundbild. Die zahlreichen produktiven Verbformen sind stark modifizierbar und werden nur in Ausnahmefällen von einem Mundbild begleitet.

Für Subjekt und Objekt eines Satzes existieren oft lexikalisierte Gebärden. So zum Beispiel für Eigennamen, Familiennamen, für die Bezeichnung von Dingen und Tieren oder für Ortsnamen. Diese werden durch die entsprechende lexikalisierte Gebärde identifizierbar. Beispiele dafür sind Gebärden wie ‚MAMA‘, ‚LEHRER‘, ‚BUB‘, ‚BASEL‘, oder ‚BALL‘. Subjekt und Objekt werden oft von einem Mundbild begleitet.

Mundbild als genaue Entsprechung eines deutschen Wortes
Das ganze Wort ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(a) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
00:48-00:50
Das ganze Wort ‚Gebärdensprache‘ wird auf dem Mund abgebildet.

(b) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:22-01:23
Das ganze Wort ‚Kommunikation‘ wird auf dem Mund abgebildet. Die Vokale sind besonders gut sichtbar.

(c) Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:37-01:38
Das ganze Wort ‚gehörlos‘ wird auf dem Mund abgebildet.


Mundbild als teilweise Reduktion eines deutschen Wortes
Nicht das ganze Wort ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(d) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
01:01-01:03
Teile des Wortes ‚Gebärdensprache‘ finden sich auf dem Mundbild wieder: ‚g-e-b-sch-p-a‘.

(e) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:27
Teile des Wortes ‚Kommunikation‘ finden sich auf dem Mundbild wieder: ‚k-o-m-u-n-a-t‘.

(f) Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:39-01:40
Teile des Wortes ‚gehörlos‘ finden sich auf dem Mundbild wieder:
‚g-l-o-s‘.


Mundbild als starke Reduktion eines deutschen Wortes
Nur ein kleiner Teil des Wortes ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(g) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
01:10
Das Mundbild des Wortes Gebärdensprache‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚sch-p-a‘.

(h) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:31
Das Mundbild des Wortes ‚Kommunikation‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚k-o-m-u‘.

(i) Das Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:40-01:41
Das Mundbild des Wortes ‚gehörlos‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚g-l-s‘.

Welche der erläuterten Arten von Mundbildern eine gehörlose Person benutzt, hängt mit dem historischen Kontext zusammen, in welchen sie eingebettet ist/war.

Im letzten Abschnitt (s. Kapitel 12.50) wird aufgezeigt, wie einzelne Laute stimmlos auf dem Mund gebildet werden, so dass Inhalte schnell erfasst werden können. Dazu haben Gehörlose spezifische Techniken entwickelt.

Es gibt noch nicht genug wissenschaftlich fundierte Aussagen dazu, welche der drei Arten von Mundbildern (Entsprechung deutsches Wort oder unterschiedlicher Grad an Reduktion) wann zur Anwendung kommt. Grundlage der folgenden Erläuterungen sind Beobachtungen und Erfahrungen.

Ein Mundbild bezieht sich immer auf die deutsche Sprache; es entlehnt ihr ein Wort und bildet dieses auf dem Mund ab. (Es gibt ebenfalls Mundbilder, welche anderen gesprochenen/geschriebenen Sprachen entlehnt sind, z.B. Fremdwörter). In der gebärdensprachlichen Kommunikation unter Gehörlosen wird das Mundbild oft grösser und langsamer ausgeführt, damit die visuelle Information besser ablesbar ist. Wie erwähnt sind Mundbilder im historischen Kontext der Schulbildung gehörloser Menschen zu verstehen.
Mundbilder können sehr unterschiedlich ausgeführt werden. Es gibt Mundbilder, welche eine genaue Entsprechung eines deutschen Wortes darstellen. Andere werden in unterschiedlichem Grade reduziert, d.h. es finden sich nur einige bis ganz wenige Teile des deutschen Wortes auf dem Mundbild wieder.
Warum es diese unterschiedlichen Arten von Mundbildern gibt, ist nicht klar. Es lassen sich aber vier Einflussfaktoren ausmachen:
– Die Generation, zu der eine gehörlose Person zählt (historische Gründe).
– Die Herkunftsfamilie einer gehörlosen Person. Diese kann sich aus gehörlosen, aus hörenden oder aus gehörlosen und hörenden Personen zusammensetzen.
– Die Art der Beschulung, welche eine gehörlose Person erhalten hat: Separierte, teilintegrierte oder integrierte Beschulung.
– Die gebräuchliche Kommunikationsform im Alltag.

Jeder Mensch, der eine gesprochene Sprache benutzt, produziert Mundbilder. Diese werden jedoch klein und schnell ausgeführt. In der gesprochenen Sprache spielen sie eine untergeordnete Rolle, da akustische Informationen (Töne, Stimme, Sprachmelodie) relevanter sind.
Mit Eintritt in die Schule lernen alle Kinder die Standardsprache Deutsch, auch lesen und schreiben. In diesem Zusammenhang wird ihnen – auch gehörlosen Kindern – der Unterschied zwischen Vokalen (A, E, I, O, U) und Konsonanten (M, N, L, S usw.) vermittelt. Gehörlose Kinder sind auf ein sehr deutliches Mundbild angewiesen, um gesprochene Wörter verstehen und die Abgrenzung einzelner Wörter voneinander (Anfang und Ende eines Wortes) erkennen zu können. Vokale sind einfacher ablesbar als Konsonanten.
Im Laufe der Zeit und ihm Zuge der zunehmend gebärdensprachlichen Kommunikation unter Gehörlosen haben sich die Mundbilder verändert. Heute lassen sich drei Arten von Mundbildern unterscheiden:
– Mundbild als genaue Entsprechung des deutschen Wortes.
– Reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen Teil eines deutschen Wortes wieder.
– Sehr stark reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen geringen Teil eines deutschen Wortes wieder.

Die Verwendung dieser unterschiedlichen Arten von Mundbildern folgt bestimmten Konventionen.

Der Begriff Mund-Bild kommt daher, dass Wörter der deutschen Sprache auf dem Mund einer gebärdenden Person – stimmlos – abge-bild-et werden. Ein deutliches Mundbild erleichtert das Ablesen von den Lippen.

Das Verwenden von Mundbildern ist nur im historischen Kontext zu verstehen. Die Bildung gehörloser Menschen in der Deutschschweiz war in der Zeit von 1870 bis 1920 sehr lautsprachlich geprägt. D.h. der Fokus lag darauf, das deutliche Sprechen und das Ablesen zu trainieren. Gebärden hatten damals einen geringen Stellenwert, Mundbilder waren daher ein wesentlicher Bestandteil der Verständigung.

Es gibt unterschiedliche Arten von Mundbildern. Nicht alle Mundbilder sind eine genaue Entsprechung eines deutschen Wortes. Auch kann die zeitliche Übereinstimmung von Gebärde und Mundbild sehr unterschiedlich sein. Ein Mundbild kann synchron oder asynchron zu einer Gebärde ausgeführt werden.

Mundbilder und Mundformen sind Bestandteile der gebärdensprachlichen Kommunikation der Gemeinschaft der Gehörlosen. Der Unterschied zwischen Mundbild und Mundform besteht darin: Mundbilder sind von der deutschen Sprache beeinflusst, ihr entlehnt; deutsche Wörter finden sich – stimmlos – auf dem Mundbild wieder. Mundformen hingegen stehen in keinem Zusammenhang mit der deutschen Sprache; die Bewegungen des Mundes verleihen den Gebärden eine zusätzliche Bedeutung. Sowohl Mundbilder wie auch Mundformen zählen zu den nichtmanuellen Komponenten (wie auch die Mimik und die Bewegung des Oberkörpers).

Es liegt noch wenig gesichertes Wissen zum Thema Mundbilder und Mundformen vor, zu ihren jeweiligen Funktionen oder dazu, ob/wie sie zueinander in Beziehung stehen beziehungsweise wie sie mit den Gebärden, die sie begleiten, in Beziehung stehen. Die folgenden Aussagen zum Thema Mundbilder und Mundformen basieren auf Beobachtungen und Erfahrungen.

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