Kapitel 12

Mundbilder und Mundformen

Inhaltverzeichnis

Einführung

Mundbilder und Mundformen sind Bestandteile der gebärdensprachlichen Kommunikation der Gemeinschaft der Gehörlosen. Der Unterschied zwischen Mundbild und Mundform besteht darin: Mundbilder sind von der deutschen Sprache beeinflusst, ihr entlehnt; deutsche Wörter finden sich – stimmlos – auf dem Mundbild wieder. Mundformen hingegen stehen in keinem Zusammenhang mit der deutschen Sprache; die Bewegungen des Mundes verleihen den Gebärden eine zusätzliche Bedeutung. Sowohl Mundbilder wie auch Mundformen zählen zu den nichtmanuellen Komponenten (wie auch die Mimik und die Bewegung des Oberkörpers).

Es liegt noch wenig gesichertes Wissen zum Thema Mundbilder und Mundformen vor, zu ihren jeweiligen Funktionen oder dazu, ob/wie sie zueinander in Beziehung stehen beziehungsweise wie sie mit den Gebärden, die sie begleiten, in Beziehung stehen. Die folgenden Aussagen zum Thema Mundbilder und Mundformen basieren auf Beobachtungen und Erfahrungen.

Mundbilder (MB)

Der Begriff Mund-Bild kommt daher, dass Wörter der deutschen Sprache auf dem Mund einer gebärdenden Person – stimmlos – abge-bild-et werden. Ein deutliches Mundbild erleichtert das Ablesen von den Lippen.

Das Verwenden von Mundbildern ist nur im historischen Kontext zu verstehen. Die Bildung gehörloser Menschen in der Deutschschweiz war in der Zeit von 1870 bis 1920 sehr lautsprachlich geprägt. D.h. der Fokus lag darauf, das deutliche Sprechen und das Ablesen zu trainieren. Gebärden hatten damals einen geringen Stellenwert, Mundbilder waren daher ein wesentlicher Bestandteil der Verständigung.

Es gibt unterschiedliche Arten von Mundbildern. Nicht alle Mundbilder sind eine genaue Entsprechung eines deutschen Wortes. Auch kann die zeitliche Übereinstimmung von Gebärde und Mundbild sehr unterschiedlich sein. Ein Mundbild kann synchron oder asynchron zu einer Gebärde ausgeführt werden.

Historischer Hintergrund

Jeder Mensch, der eine gesprochene Sprache benutzt, produziert Mundbilder. Diese werden jedoch klein und schnell ausgeführt. In der gesprochenen Sprache spielen sie eine untergeordnete Rolle, da akustische Informationen (Töne, Stimme, Sprachmelodie) relevanter sind.
Mit Eintritt in die Schule lernen alle Kinder die Standardsprache Deutsch, auch lesen und schreiben. In diesem Zusammenhang wird ihnen – auch gehörlosen Kindern – der Unterschied zwischen Vokalen (A, E, I, O, U) und Konsonanten (M, N, L, S usw.) vermittelt. Gehörlose Kinder sind auf ein sehr deutliches Mundbild angewiesen, um gesprochene Wörter verstehen und die Abgrenzung einzelner Wörter voneinander (Anfang und Ende eines Wortes) erkennen zu können. Vokale sind einfacher ablesbar als Konsonanten.
Im Laufe der Zeit und ihm Zuge der zunehmend gebärdensprachlichen Kommunikation unter Gehörlosen haben sich die Mundbilder verändert. Heute lassen sich drei Arten von Mundbildern unterscheiden:
– Mundbild als genaue Entsprechung des deutschen Wortes.
– Reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen Teil eines deutschen Wortes wieder.
– Sehr stark reduziertes Mundbild: Das Mundbild gibt nur einen geringen Teil eines deutschen Wortes wieder.

Die Verwendung dieser unterschiedlichen Arten von Mundbildern folgt bestimmten Konventionen.

Gründe für unterschiedliche Arten von Mundbildern

Ein Mundbild bezieht sich immer auf die deutsche Sprache; es entlehnt ihr ein Wort und bildet dieses auf dem Mund ab. (Es gibt ebenfalls Mundbilder, welche anderen gesprochenen/geschriebenen Sprachen entlehnt sind, z.B. Fremdwörter). In der gebärdensprachlichen Kommunikation unter Gehörlosen wird das Mundbild oft grösser und langsamer ausgeführt, damit die visuelle Information besser ablesbar ist. Wie erwähnt sind Mundbilder im historischen Kontext der Schulbildung gehörloser Menschen zu verstehen.
Mundbilder können sehr unterschiedlich ausgeführt werden. Es gibt Mundbilder, welche eine genaue Entsprechung eines deutschen Wortes darstellen. Andere werden in unterschiedlichem Grade reduziert, d.h. es finden sich nur einige bis ganz wenige Teile des deutschen Wortes auf dem Mundbild wieder.
Warum es diese unterschiedlichen Arten von Mundbildern gibt, ist nicht klar. Es lassen sich aber vier Einflussfaktoren ausmachen:
– Die Generation, zu der eine gehörlose Person zählt (historische Gründe).
– Die Herkunftsfamilie einer gehörlosen Person. Diese kann sich aus gehörlosen, aus hörenden oder aus gehörlosen und hörenden Personen zusammensetzen.
– Die Art der Beschulung, welche eine gehörlose Person erhalten hat: Separierte, teilintegrierte oder integrierte Beschulung.
– Die gebräuchliche Kommunikationsform im Alltag.

Verwendung von Mundbildern (MB)

Es gibt noch nicht genug wissenschaftlich fundierte Aussagen dazu, welche der drei Arten von Mundbildern (Entsprechung deutsches Wort oder unterschiedlicher Grad an Reduktion) wann zur Anwendung kommt. Grundlage der folgenden Erläuterungen sind Beobachtungen und Erfahrungen.

Drei Arten von Mundbildern

Mundbild als genaue Entsprechung eines deutschen Wortes
Das ganze Wort ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(a) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
00:48-00:50
Das ganze Wort ‚Gebärdensprache‘ wird auf dem Mund abgebildet.

(b) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:22-01:23
Das ganze Wort ‚Kommunikation‘ wird auf dem Mund abgebildet. Die Vokale sind besonders gut sichtbar.

(c) Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:37-01:38
Das ganze Wort ‚gehörlos‘ wird auf dem Mund abgebildet.


Mundbild als teilweise Reduktion eines deutschen Wortes
Nicht das ganze Wort ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(d) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
01:01-01:03
Teile des Wortes ‚Gebärdensprache‘ finden sich auf dem Mundbild wieder: ‚g-e-b-sch-p-a‘.

(e) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:27
Teile des Wortes ‚Kommunikation‘ finden sich auf dem Mundbild wieder: ‚k-o-m-u-n-a-t‘.

(f) Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:39-01:40
Teile des Wortes ‚gehörlos‘ finden sich auf dem Mundbild wieder:
‚g-l-o-s‘.


Mundbild als starke Reduktion eines deutschen Wortes
Nur ein kleiner Teil des Wortes ist auf dem Mundbild sichtbar. Dazu drei Beispiele:

(g) Mundbild zur Gebärde ‚GEBÄRDENSPRACHE‘
01:10
Das Mundbild des Wortes Gebärdensprache‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚sch-p-a‘.

(h) Mundbild zur Gebärde ‚KOMMUNIKATION‘
01:31
Das Mundbild des Wortes ‚Kommunikation‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚k-o-m-u‘.

(i) Das Mundbild zur Gebärde ‚GEHÖRLOS‘
01:40-01:41
Das Mundbild des Wortes ‚gehörlos‘ beschränkt sich auf wenige ausgewählte Teile: ‚g-l-s‘.

Welche der erläuterten Arten von Mundbildern eine gehörlose Person benutzt, hängt mit dem historischen Kontext zusammen, in welchen sie eingebettet ist/war.

Im letzten Abschnitt (s. Kapitel 12.50) wird aufgezeigt, wie einzelne Laute stimmlos auf dem Mund gebildet werden, so dass Inhalte schnell erfasst werden können. Dazu haben Gehörlose spezifische Techniken entwickelt.

Mundbild bei Subjekt und Objekt

Für Subjekt und Objekt eines Satzes existieren oft lexikalisierte Gebärden. So zum Beispiel für Eigennamen, Familiennamen, für die Bezeichnung von Dingen und Tieren oder für Ortsnamen. Diese werden durch die entsprechende lexikalisierte Gebärde identifizierbar. Beispiele dafür sind Gebärden wie ‚MAMA‘, ‚LEHRER‘, ‚BUB‘, ‚BASEL‘, oder ‚BALL‘. Subjekt und Objekt werden oft von einem Mundbild begleitet.

Mundbild bei Prädikat

Ob ein Prädikat (s. Kapitel Verben) von einem Mundbild begleitet wird oder nicht, hängt davon ab, wie stark modifizierbar ein Verb ist. Einfache Verben wie zum Beispiel ‚SCHLAFEN‘, ‚ESSEN‘ oder ‚TRINKEN‘ sind nicht modifizierbar und werden oft von einem Mundbild begleitet. Übereinstimmende Verben wie ‚BESUCHEN‘, ‚FRAGEN‘, oder ‚TELEFONIEREN‘ sind bis zu einem gewissen Grad modifizierbar und können, müssen aber nicht, von einem Mundbild begleitet werden. Ortswechsel- und Pfadverben haben oft kein Mundbild. Die zahlreichen produktiven Verbformen sind stark modifizierbar und werden nur in Ausnahmefällen von einem Mundbild begleitet.

Kategorien von Gebärden mit Mundbild

Für folgende Kategorien von Gebärden wird immer ein Mundbild produziert:

– Fragen (‚WIE?‘, ‚WO?‘, ‚WER?‘, ‚WANN?‘)
– Zeitgebärden (‚GESTERN‘, ‚NACHMITTAG‘, ‚FÜNF UHR‘)
– Farben
– Zahlen
– Lexikalisierte Gebärden für Eigenschaften (‚LUSTIG‘, ‚FRECH‘, LIEB‘)
– Satzverbindungen (‚DURCH‘, ‚WENN-DANN‘), die Gebärde ‚ÜBER‘, die Vergleichsgebärde ‚ALS‘

Wiederholung des Mundbildes

Vereinzelt kommt es vor, dass ein reduziertes oder ein stark reduziertes Mundbild wiederholt wird. Damit können unterschiedliche Informationen vermittelt werden. Zwei Beispiele dazu:

(a)
DRAUSSEN   IX-1(ich)   SEHEN   SCHÖN   VIEL   BLUME   PROD-BLÜHEN(mb: b-l-u- b-l-u-b-l-u)
00:17-00:22
‚Ich sehe draussen viele schöne Blumen.‘

Die Gebärde ‚BLUMEN‘ wird von einem Mundbild begleitet. Dass es sich um ganz viele Blumen handelt, wird durch die Wiederholung des – der Gebärde ‚BLUME‘ entsprechenden – Substitutors angezeigt. Jede dieser Wiederholungen wird zudem durch das stark reduzierte Mundbild ‚b-l-u- b-l-u-b-l-u‘ begleitet.

(b)
IX-1(ich)   MÖCHTEN   BILETT   KAUFEN   I   IX-1(ich)   HINGEHEN   IXa   UNGLAUBLICH   PROD-STEHEN-SCHLANGE(mb: l-a-l-a-l-a-l-a)
00:28-00:33
‚Ich möchte ein Ticket kaufen. Als ich zum Schalter komme, sehe ich eine unglaublich lange Menschenschlange davorstehen.‘

Der Substitutor ‚MENSCHSCHLANGE‘ wird in diesem Beispiel mehrmals wiederholt, um die Länge der Warteschlange zu betonen. Jede dieser Wiederholungen wird zudem durch das stark reduzierte Mundbild ‚l-a-l-a-l-a-l-a‘ begleitet.

Die Mundbewegungen in beiden Beispielen bestehen aus einer Mischung aus Mundbild und Mundform und dienen der Betonung der Aussage (‚viele‘, ‚lang‘).

Ausdehnung eines Mundbildes über mehrere Gebärden

Ob und wie die Ausführung von Gebärde und Mundbild zeitlich übereinstimmt, ist ein komplexes Thema.

Die Sprachwerkzeuge der Lautsprache – Stimmbänder, Luft, Zunge, Zähne und Lippen – gehören alle derselben Modalität an. Mit Hilfe dieser Werkzeuge werden gesprochene Wörter gebildet. Natürlich bedient sich auch die Lautsprache Gesten, um zusätzliche Informationen zu übermitteln.

Die Modalität der Gebärdensprache ist eine andere, sie nutzt die Werkzeuge Arme, Hände, Finger, Oberkörper, Mimik und – wie die Lautsprache – Mundbilder und Mundformen. Die Mundbilder der Gebärdensprache zählen zu den nichtmanuellen Komponenten. Sie können zusammen mit weiteren nichtmanuellen und mit manuellen Komponenten ausgeführt werden. Es ist möglich, dass ein Mundbild und eine Gebärde gleichzeitig ausgeführt werden, dass eine Gebärde von mehreren Mundbildern begleitet wird oder aber das sich ein Mundbild über mehrere Gebärden hinweg erstreckt. Eine solche Dehnung fungiert oft als eine Art "prosodische Markierung" von Gruppen von Gebärden zu Phrasen, ähnlich wie es die vokale Intonation für gesprochene Phrasen tun kann.

Die unterschiedliche Handhabung des Mundbildes kann auf Satzebene dazu dienen, Satzeinheiten zu bilden bzw. sie voneinander abzugrenzen. En Beispiel dazu:

a)

‚Die Frau.‘
00:25-00:27

Das Mundbild ‚Frau‘ erstreckt sich über die Gebärden ‚FRAU‘, den Index für die Frau und den Substitutor ‚PERSON‘. Damit wird eine Einheit aus allen drei Elementen gebildet. Würde der Substitutor ebenfalls von einem Mundbild (‚Person‘) begleitet, so wäre die Einheit aufgebrochen.

Ein weiteres Beispiel:

(b)

‚Das rote Buch.‘
00:53-00:57

Die Gebärde ‚BUCH‘ wird vom Mundbild ‚Buch‘ begleitet. Das Mundbild ‚rot‘ erstreckt sich über die Gebärde ‚ROT‘ und den Substitutor für das ‚BUCH‘ und bildet damit die Einheit ‚rotes Buch‘.

Mundformen (MF)

Mundformen – manchmal werden sie auch als Mundgesten bezeichnet – sind Bewegungen des Mundes, welche nicht von der deutschen Sprache motiviert sind. Gesten (welche auch hörende Personen benutzen) werden oft von Mundformen begleitet, wie folgende Beispiele zeigen:

(a)
00:15-00:19

In der Gebärdensprache wurden solche Mundformen im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Die zahlreichen Mundformen der Gebärdensprache verleihen den Gebärden zusätzliche Bedeutung (wie die Bewegung der Augenbrauen und des Oberkörpers auch).

Unterschiedliche Mundformen

Es gibt viele unterschiedliche Mundformen. Die sieben gebräuchlichsten werden hier vorgestellt:

(a)
00:11-00:25

Die Einteilung in diese sieben Grundformen basiert darauf, dass jede Grundform eine Reihe ähnlicher Informationen/Bedeutungen vermittelt:

Grundformen

MF 1
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘üblich’, gewöhnlich’, ‘normal’, also ‘nichts Spezielles’.

MF 2
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘Anspannung’, ‘Stress’, ‘Härte’, ‘viel’, ‘knapp’.

MF 3
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘viel’, ‘umfangreich’, ‘schwer’, ‘voll’, ‘streng’.

MF 4
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘Desinteresse’, ‘nicht motiviert’, ‘etwas aushalten müssen’, ‘Geduld haben müssen’, ‘etwas akzeptieren müssen’.

MF 5
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘nicht wissen’, ‘nichts zu tun haben mit’, ‘Abgrenzung’.

MF 6
Diese Mundform beinhaltet das Gegenteil der Mundform 3: ‘schmal, ‘wenig’, ‘dünn’, ‘fast nichts’.

MF 7
Diese Mundform beinhaltet die Information: ‘heimlich’, ‘geheim’, ‘etwas für sich behalten müssen’, ‘peinlich’.

Unterschiedliche Betonung

Jede dieser unterschiedlichen Mundformen kann noch weiter differenziert werden, um die vermittelte Bedeutung zu betonen/zu verstärken beziehungsweise abzuschwächen. Dazu verschiedene Beispiele:

MF 1

(a) Abschwächung (b) Betonung/Verstärkung
00:14-00:15  / 00:18-00:19  

MF 4

(c) Abschwächung (d) Betonung/Verstärkung (e) starke Betonung/Verstärkung
00:22-00:23  /  00:24-00:25  /  00:26  

MF 2

(f) Abschwächung bis starke Betonung/Verstärkung
00:29-00:30  

MF 5
Oft wird auch der Kiefer mehr oder weniger stark nach vorne gezogen, je nach Stärke der Betonung/Verstärkung:

(g)
00:41-00:45

Mundform und Nase

Die Bewegung der Nase hat ebenfalls Einfluss auf die Form des Mundes, wie folgende Beispiele zeigen:

(a)
00:12-00:16

Solche Bewegungen der Nase wirken sich aber nicht nur auf die Form des Mundes aus, sondern vermitteln ebenfalls zusätzliche Bedeutungen:

(b)

00:25-00:26
Hier kommt zum Ausdruck, dass die gebärdende Person etwas nicht kennt/nicht weiss, etwas wissen will.

(c)

00:34-00:35
Mit dieser Bewegung der Nase wird Bestätigung zum Ausdruck gebracht. Sie ersetzt in diesem Sinne die Gebärde ‘RICHTIG’, ‘GENAU’.

(d)

00:47
Hier wird vermittelt, dass etwas akzeptiert werden muss, weil es nun einmal passiert ist.

Verwendung von Mundformen (MF)

Mundformen liefern – wie Mundbilder auch – zusätzliche Bedeutung. Sie präzisieren die Art und Weise einer Aktion/Handlung, werden also oft zusammen mit einem Verb produziert.
Auch Verben können von einer Mundform begleitet werden. Zunächst ein Beispiel ohne Mundform, dann zwei Beispiele mit Mundformen:

(a)
GESTERN   IX-1(ich). GANZ-TAG(Uhr)  ARBEITEN(mb:arbeiten)
00:48-00:51
‘Gestern habe ich den ganzen Tag gearbeitet.’

In diesem Beispiel wird das einfache Verb ‘ARBEITEN’ vom Mundbild ‘arbeiten’ begleitet. Wie gearbeitet wurde, bleibt offen.

Soll angezeigt werden, wie die Handlung vollzogen wird, dann wird eine Mundform benutzt:

(b)
GESTERN   IX-1(ICH))  GANZ-TAG(Uhr)  ARBEITEN(mf:VIEL
01:09-01:13
‚Gestern habe ich den ganzen Tag wie verrückt gearbeitet.‘

(c)
GESTERN   IX-1(ICH)  GANZ-TAG(Uhr)  ARBEITEN(mf:ÜBLICH
01:013-01:17
‚Gestern habe ich den ganzen Tag wie üblich (in normalem Tempo und Umfang) gearbeitet.‘

Eine Mundform wird also gebildet, wenn die Art und Weise einer Handlung vermittelt werden soll. Ansonsten kann ein Verb von einem Mundbild begleitet werden; dies ist aber wiederum abhängig davon, um welche Art von Verb es sich handelt (s. Kapitel 12.23 Mundbild bei Prädikat).

Mundformen bei Verben

In den Beispielen des Kapitels 12.40 handelte es sich jeweils um ein einfaches Verb. Durch das Hinzufügen einer Mundform zu einem einfachen Verb wird die Art und Weise der Handlung differenziert: Das Arbeiten fand in gewohnter Art und Weise/in gewohntem Umfang statt/war nicht anstrengend oder aber es war streng oder es war lustlos/nicht motiviert.

Produktive Verbformen (substitutive, manipulative, massanzeigende, skizzierende, stempelnde Technik), welche eine Aktion/Handlung präziser beschreiben, nutzen dazu oft eine Mundform. Folgende Beispiele zeigen, wie die Art und Weise einer Aktion/Handlung damit differenziert werden kann:

(a)
00:58-01:03 
Die verschiedenen Mundformen zum Manipulator ‘TÜRE ÖFFNEN’ geben an, wie unterschiedlich streng das Öffnen einer Tür sein kann.

(b)
01:11-01:17
Die unterschiedlichen Mundformen zum Substitutor ‚AUTO FAHREN‘ geben darüber Auskunft, wie ein Auto eine kurvenreiche Bergstrasse aufwärtsfahren kann (in normalem Tempo, schnell, sich mehr oder weniger stark in die Kurve legend).

Auch Orts- und Pfadverben können von Mundformen begleitet werden, um zusätzliche Informationen zu vermitteln:

(c)
IX-1(ich)   IXa   LUZERN   IXb –PENDELN(mf:VIEL)-IXa  II
01:29-01:32
‘Ich gehe sehr oft nach Luzern.’
Die Mundform steht hier für ‚sehr viel/sehr oft‘.

Mundformen bei Eigenschaften

Mundformen können Eigenschaften (Personen, Dinge, Formen) noch näher beschreiben.
Dazu ein Beispiel:

(a)
EIN(mb:ein)   FRAU(mb:frau)   IX-3   DÜNN(mf:SO-DÜNN)  //
PROD-CATWALK(mf:STOLZ)
00:23-00:26
‚Diese äusserst schlanke Frau läuft wie auf einem Laufsteg.‘

Zur Präzisierung der Eigenschaften werden hier spezifische Mundformen benutzt. Ohne Mundform ergäbe sich lediglich die Aussage:

(b)
EIN   FRAU(mb:frau)   IX-3   DÜNN(mb:dünn)  GEHEN(mb:laufen)   II
00:47-00:50
‚Die schlanke Frau läuft …  .‘

Dynamische Mundformen

Nebst den erläuterten Mundformen existieren dynamische Mundformen, welche eine Handlung noch detaillierter beschreiben.

Zunächst ein Beispiel ohne dynamische Mundform:

(a)
AUTO   PROD-AUTOFAHREN-KURVIG-STEIL-HINAUF (mf:VIEL)  II
00:24-00:28
‚Ein Auto fährt eine kurvenreiche und steile Strasse hinauf.‘

Als Vergleich dazu einige Beispiele mit dynamischen Mundformen, welche den genauen Bewegungsablauf aufzeigen:

(b)
AUTO   PROD-AUTOFAHREN-KURVE-ÜBERSCHLAGEN(mf:BA-BA-BA)  II
00:43-00:46
‚Ein Auto überschlägt sich in einer Rechtskurve und schlägt mehrmals auf der rechten Längsseite auf.‘

(c)
00:55-00:59
IX-1(ICH)   AUTO   BREMSEN   PROD-RAD-RUCKELN(mf:BS-BS-BS)
‚Ich mache eine Vollbremsung, so dass die Räder ins Stottern geraten.‘

(d)
BALL   PROD-BALL-AUFSCHLAGEN-BODEN(mf:PA-PA-PA)
01:05-01:08
‚Der Ball schlägt mehrmals auf dem Boden auf.‘

(e)
BLITZ(2h) PROD-BLITZ_ENTADEN(mf: B-B-B)
01:09-01:13
‚Es entladen sich zahlreiche heftige Blitze.‘

Überlagerung von Mundbild und Mundform

Mundbilder und Mundformen lassen sich nicht immer klar auseinanderhalten. Sie beeinflussen sich gegenseitig und können sich in einer Aussage überlagern, wie folgende Beispiele zeigen:

a)
FRAU  IX-3   KOMMEN   LÄUTEN   IX-3
‚Die Frau kommt und läutet.‘

Dieses Beispiel enthält fünf Gebärden und die zwei Mundbilder ‚Frau‘ und ‚läuten‘.

b)
FRAU  IX-3   KOMMEN   LÄUTEN   IX-3
‚Die Frau kommt und läutet.‘

In diesem Beispiel werden ebenfalls die Mundbilder ‚Frau‘ und ‚läuten‘ benutzt; zusätzlich wird die gesamte Aussage von einer Mundform begleitet, welche Überraschung/Erstaunen über das Geschehen ausdrückt (‚wer ist die Frau?‘, ‚warum kommt und läutet sie?‘).

c)
FRAU  IX-3   KOMMEN   LÄUTEN   IX-3
‚Die Frau kommt und läutet.‘

Auch in diesem Beispiel werden die Mundbilder ‚Frau‘ und ‚läuten‘ benutzt; zusätzlich wird die gesamte Aussage von einer Mundform begleitet, die ausdrückt, dass die Frau in Eile ist und das Geschehen gerade jetzt passiert.

Spezifische Artikulationstechniken Gehörloser

Artikulation von Vokalen

Dass beim Gebärden überhaupt Mundbilder eingesetzt werden, ist auf die langanhaltende lautsprachorientierte Tradition der Schulung gehörloser Menschen zurückzuführen. Gehörlose ihrerseits haben eigene Techniken entwickelt, um klare, deutliche und verständliche Mundbilder zu erzeugen. Es lassen sich dabei zwei Techniken unterscheiden: Die eine dient der Bildung von Mundbildern für Vokale und die andere der Bildung von Mundbildern für Konsonanten.

Alle Wörter beinhalten Vokale (A, E, I, O, U). Sie sind sehr wichtig, aber auch sehr einfach abzulesen, da sich der Mund beim Artikulieren öffnet. Bei der Artikulation der vielen Konsonanten hingegen ist der Mund geschlossener und die Mundbewegungen sind kleiner; Konsonanten sind daher schwieriger abzulesen. Für das Verständnis eines Mundbildes/eines Wortes sind die Vokale daher umso wichtiger.

Es kann beobachtet werden, dass die Art und Weise, wie Vokale gebildet werden, von ihrer Stellung innerhalb eines Wortes abhängt. Am Anfang, aber oft auch am Ende werden Vokale langsamer und deutlicher ausgeführt als in der Mitte eines Wortes. So z.B. beim Mundbild ‘a–ut-o’. Das etwas ausgeprägtere A lässt Zeit, den Anfang korrekt zu erfassen. Andernfalls könnte das ganze Wort verpasst werden. Diese Technik wird bei allen Vokalen angewendet.

Um die einzelnen Vokale gut voneinander unterscheiden zu können, werden weitere Techniken genutzt: Beim A öffnet sich der ganze Mund. Beim E wird das Kinn oft etwas nach vorne geschoben, beim I werden die Wangen nach oben gezogen, so lassen sich diese beiden Vokale gut unterscheiden. Zur Unterscheidung von O und U wird das Kinn beim U ebenfalls etwas nach vorne geschoben.

Artikulation von Konsonanten

Im Vergleich zur Artikulation von Vokalen wird der Mund bei Konsonanten nicht so weit geöffnet, was dazu führt, dass Konsonanten weniger gut ablesbar sind. Es gibt viele Konsonanten und viele lassen sich in Gruppen mit ähnlichen Mundbildern einteilen. Um diese dennoch unterscheiden zu können, werden ebenfalls bestimmte Techniken angewendet. Wie bei den Vokalen auch werden Konsonanten am Anfang und am Endes eines Wortes gedehnt.

Die Konsonanten B, P und M

Um die Mundbilder der Konsonanten B, P und M unterscheiden zu können, wird der Lippenverschluss je unterschiedlich ausgeführt. Beim B werden die Lippen leicht geschlossen und anschliessend wieder leicht geöffnet. Im Gegensatz dazu erfolgen der Lippenverschluss (Lippen werden zusammengepresst) und das anschliessende Öffnen der Lippen beim P stärker. Beim M werden die Lippen nur zusammengepresst.

Die Konsonanten D, T und N

Die Mundbilder der Konsonanten D, T und N sind sehr ähnlich. D und T werden gleich gebildet und lassen sich daher nicht unterscheiden. Beim N hingegen bleibt die Zunge leicht sichtbar.

Die Konsonanten F, V, und W

Die Mundbilder der Konsonanten F, V und W werden gleich gebildet und lassen sich daher nicht unterscheiden. Die Gruppe F/V/W lässt sich als solche aber von den anderen Konsonanten beziehungsweise von anderen Konsonantengruppen unterscheiden.

Die Konsonanten C, S, Z, SP und SCH

Um die Konsonanten S und C besser voneinander unterscheiden zu können, wird beim S der Kiefer oft etwas nach vorne geschoben. Bei SP muss beachtet werden, dass sich dies aus SCH und P zusammensetzt und auf dem Mundbild auch entsprechend abgebildet wird (‚sch-pielen‘, nicht ‚s-pielen‘). Der erste Teil von SP entspricht also dem Mundbild von SCH.

Die Konsonanten G, K, CK, NK und NG

Der Konsonant H wird nicht erläutert, da er nicht ablesbar ist.

Stehen die Konsonanten G und K am Anfang eines Wortes, so ist der Mund zu Beginn bereits leicht geöffnet und öffnet sich anschliessend noch etwas mehr. Stehen sie am Schluss eines Wortes, so schliesst sich der Mund etwas. Letzteres ist auch bei den Konsonanten CK, NK und NG der Fall.

Die Konsonanten L und R

Der Konsonant L wird durch die Zungenstellung sichtbar. Die Zungenspitze drückt sich dabei an die obere Zahnreihe im Mundraum. Das R kann entweder mit der Zungenspitze oder im Gaumen gebildet werden. Früher wurde gehörlosen Kindern das Zungenspitzen-R beigebracht, heute ist das nicht mehr so, beide Formen sind zulässig.
Wird das R ähnlich wie ein L gebildet, so kann es besser abgelesen werden. Es gibt Personen, welche die Zunge beim Bilden des L so stark hinausstrecken, dass die Zungenspitze einen Punkt oberhalb der Oberlippe berührt. Dies ist nicht nötig.

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