Ein Vorname dient dazu, eine Person zu identifizieren. Um die Mitglieder einer sprachlich-kulturellen Gemeinschaft voneinander unterscheiden zu können, erhält daher jedes Mitglied einen persönlichen Vornamen. Jede Familie beziehungsweise jedes Elternpaar weist dem neugeborenen Kind einen (gesprochenen/geschriebenen) Vornamen zu und nimmt es damit in die Gemeinschaft auf. Der Vorname ist Ausdruck der Zugehörigkeit zu dieser sprachlich-kulturellen Gemeinschaft und fester Bestanteil der Identität eines Menschen.
In der Gemeinschaft der Gehörlosen, einer sprachlich-kulturellen Minderheit, werden ebenfalls persönliche Namen – sogenannte Namensgebärden vergeben. Somit verfügt ein Mitglied dieser Gemeinschaft über zwei Namen, einen gesprochenen/geschriebenen Vornamen und einen gebärdeten Namen. Jeder dieser beiden Namen steht für die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft.
Alle Gehörlosengemeinschaften auf der ganzen Welt weisen ihren Mitgliedern persönliche Namensgebärden zu. Dazu gibt es einige Studien aus unterschiedlichen Ländern. In der Deutschschweiz wurde 1993 im Rahmen der Ausbildung zur Gebärdensprachlehrperson eine Untersuchung zu Namensgebärden durchgeführt (Tanja Tissi). Einige Aspekt aus ihrer Befragung (wie sehen Namensgebärden aus, wie viele gibt es, von welchen Quellen sind sie inspiriert) werden im Folgenden erläutert und auch durch neue Erkenntnisse ergänzt, denn in den vergangenen 30 Jahre hat sich einiges verändert. So sind zum Beispiel auch hörende Personen an einer persönlichen Namensgebärde interessiert.
https://www.fzgresearch.org/PDF_VUGS/(23)%20Tissi%201993.pdf
Dass persönliche Namensgebärden innerhalb der sprachlich-kulturellen Minderheit gehörloser Personen einen hohen Wert haben, ist historisch begründet.
In der Schweiz entstanden in der Zeit von 1910 bis 1970/1980 auch Schulen (Heime, Internate, Anstalten) für gehörlose Kinder. Alle Kinder verbrachten einen grossen Lebensabschnitt gemeinsam in diesen Schulen, nach Hause gingen sie vielleicht einmal pro Monat oder nur während der Ferien. Der Unterricht war damals rein lautsprachlich orientiert. Ausserhalb des Unterrichts aber fanden die Kinder ihre eigene Art der Kommunikation, mit der sie sich identifizieren konnten und welche die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestärkte. Um sich über hörende Lehrpersonen oder Erzieher:innen unterhalten zu können, wiesen sie diesen Namensgebärden zu. Diese wurden nach aussen jedoch nicht preisgegeben, was den Zusammenhalt in der Gemeinschaft wiederum verstärkte.
Heute gibt es weniger Internatsplätze. Ab den 70er/80 Jahren des 19. Jahrhunderts besuchten die Kinder zunehmend als «Externe» die Schulen und diese öffneten sich für die Gebärdensprache auch im Unterricht. Auch die Regeln für die Namensgebung, welche damals nur dem vertrauten Kreis der gehörlosen Schüler:innen bekannt waren, haben sich im Verlaufe der Zeit verändert. Einige nicht mehr gebräuchliche und aktuelle Regeln werden im Folgenden erläutert.
Namensgebärden werden ausnahmslos von gehörlosen Personen aus dem nahen Umfeld der Person, welche eine Namensgebärde erhalten soll, vergeben. Verglichen werden kann dies mit dem Vergeben von Namen – aufgrund von bestimmten Ereignissen – innerhalb der indigenen Gemeinschaften Amerikas.
Der Grossteil gehörloser Menschen besitzt eine Namensgebärde. Dass es auch Personen ohne Namensgebärde gibt, hat mit der strengen lautsprachlichen Orientierung der besuchten Institution (des Heims, der Anstalt, der Schule) zu tun. Je nach Grad der lautsprachlichen Orientierung und dem Zeitpunkt, zu dem die Institution besucht wurde, wurden mehr oder weniger Namensgebärden vergeben; im Laufe der Zeit hat das Vergeben von Namensgebärden zugenommen. Im Gegensatz zu früher, als bei der Namensgebung sehr direkt und unverblümt vorgegangen wurde, wird sie heute oft zusammen mit dem/der Namensempfänger:in besprochen, das Einverständnis wird eingeholt und erst bei Zustimmung vollzogen. Dies dient dem Schutz der betreffenden Person.
Das Alter, in welchem eine Person eine Namensgebärde erhält, variiert. Bei der befragten Generation in der oben erwähnten Untersuchung (siehe Kapitel 15.20) geschah dies meist während der Zeit im Internat im Alter von sieben bis zehn Jahren, bei einigen auch später.
Heute arbeiten gehörlose Fachpersonen im Vorschulbereich und in der Schule und geben den Kindern Namensgebärden. Gebärdensprachlehrpersonen weisen auch Eltern und Lehrpersonen, welche einen Gebärdensprachkurs besuchen, nach gemeinsamer Absprache Namensgebärden zu.
Kinder, welche keinen Kontakt zu gehörlosem Fachpersonen haben (z.B. integriert geschulte Kinder) erhalten keine Namensgebärde oder erst später (ca. ab 14 Jahren), wenn sie die aktive Teilnahme in der Gehörlosengemeinschaft unter Beweis stellen (z.B. regelmässige Teilnahme an Sport-, Kultur- u.a. Anlässen).
Hörende Personen, welche sich viel im Gehörlosenwesen bewegen/bewegten (Arbeit, ein Teil des Lebens dort verbringen) erhalten/erhielten vom gehörlosen Umfeld eine Namensgebärde.
So war dies zum Beispiel bei hörenden Personen der Fall, welche in Anstalten, Internaten oder Schulen für gehörlose Kinder tätig waren (Lehrpersonen, Erzieher:innen, Direktor:innen, Leitungspersonen). Sie selbst hatten aber, abgesehen von wenigen Ausnahmen, keine Kenntnis davon, denn die Namen wurden nicht preisgegeben.
Heute noch erhalten hörende Personen, welche oft mit gehörlosen Personen zusammenarbeiten, eine Namensgebärde, manchmal nach gemeinsamer Absprache.
Daneben existieren auch Namensgebärden für Persönlichkeiten, welche nicht im Gehörlosenwesen arbeiten, aber in den Medien sehr präsent sind wie die Mitglieder des Bundesrates oder Sportler:innen. Um sich über diese Persönlichkeiten unterhalten zu können, berät sich die Gemeinschaft der Gehörlosen zu passenden Namensgebärden, einigt sich auf eine und vergibt diese.
Wie und auf welcher Grundlage Namensgebärden gebildet werden, wird in den folgenden Kapiteln erklärt. Die Namensgebung für gehörlose Personen wird von vier Quellen inspiriert. Die Vergabe von Namensgebärden für hörende Personen weicht davon etwas ab (siehe Kapitel 15.65).
Da gehörlose Menschen sehr visuell ausgerichtet sind, leiten sich Namensgebärden oft von äusseren Merkmalen einer Person ab, die besonders ins Auge stechen und sofort ein klares Bild dieser Person bei den Betrachter:innen auslösen (Körpergrösse, Postur, Beschaffenheit oder Länge der Haare, Frisur, Augen, Form der Nase, Grübchen im Kinn etc.).
Früher war diese auf visuellen Merkmalen beruhende direkte und unverblümte Art der Namensgebung gut akzeptiert. Da einige dieser Namensgebärden negativ konnotiert sind und die bezeichneten Träger:innen verletzen könnten, weil die Informationen als beleidigend empfunden werden können, werden Namensgebärden heute neutraler/sachlicher und oft in Absprache mit der betreffenden Person gebildet.
Äussere Merkmale werden heute noch als Quelle der Namensgebung genutzt, allerdings mit Beschränkung auf die Frisur, das Gesicht oder den Oberkörper einer Person.
Ein beobachtetes, aufwühlendes Ereignis wie zum Beispiel ein Unfall, ist oft Quelle für eine Namensgebärde. Schürft sich eine Person bei einem Velounfall die Hand und den Unterarm auf, so kann diese Person durch die Namensgebärde ‚SCHÜRFUNG HAND UND UNTERARM‘ identifiziert werden:
(a) Namensgebärde ‚SCHÜRFUNG HAND UND UNTERARM‘ – 00:18-00:19
Weitere Beispiele von Namensgebärden, die an ein spezielles Ereignis erinnern, sind folgende:
(b) Namensgebärde ‚KOPF ANSCHLAGEN‘ . 00:25
Diese Namensgebärde bezieht sich auf das heftige Anschlagen des Kopfes der entsprechenden Person.
(c) Namensgebärde ‚BEULE‘ – 00:27-00:28
Diese Namensgebärde bezieht sich auf die daraus resultierende Beule.
(d) Namensgebärde ‚KRÜCKE‘ – 00:39
Diese Namensgebärde erinnert daran, dass eine Person nach einer Operation mit Krücken daherkam.
(e) Namensgebärde ‚NARBE‘ – 00:41-00:43
Diese Namensgebärde bezieht sich auf eine Narbe am Körper oder im Gesicht der entsprechenden Person.
Die erläuterte Art der Namensgebung ist heute noch gebräuchlich.
Eine wahrnehmbare Charaktereigenschaft beziehungsweise ein Verhaltensmuster einer Person kann dazu führen, ihr eine entsprechende Namensgebärde zuzuweisen. Im Folgenden werden nur einige Beispiele dazu aufgezeigt:
(a) Namensgebärde ‚DUMMHEITEN‘ – 00:21
Diese Namensgebärde verweist darauf, dass eine Person nur Dummheiten im Kopf hat.
(b) Namensgebärde ‚DAVON LAUFEN‘ – 00:25
Diese Namensgebärde verweist darauf, dass eine Person dafür bekannt war, immer heimzulaufen (bei Heimweh).
(c) Namensgebärde ‚LACHEN WEINEN‘ – 00:30
Diese Namensgebärde weist darauf hin, dass Lachen und Weinen bei der entsprechenden Person sehr schnell ineinander übergehen.
Diese Art der Namensgebung wird zum Schutz der bezeichneten Personen zunehmend unüblich.
Zu Zeiten, als die Schulen noch sehr lautsprachorientiert waren, wurde viel in eine ganz präzise Artikulation jedes einzelnen Lautes investiert. Um die korrekte Artikulation zu unterstützen, hatten die Schulen unterschiedliche sogenannte phonembestimmte Manualsysteme (PMS) entwickelt.
Nachfolgend einige Beispiele, wie unterschiedliche Laute in (verschiedenen) PMS dargestellt wurden:
(a) [p] – 00:27-00:28, 00:34
(b) [b] – 00:30-00:31
(c) [s], [r] [l] – 00:59-01:09
Solche PMS waren ebenfalls Quelle für Namensgebärden, wie folgendes Beispiel zeigt:
(d) Namensgebärde für ‘Sonja’ – 00:49-00:50
Sonja erhält hier eine Namensgebärde, welche auf das Zeichen für den [s]-Laut eines PMS zurückgeht.
Bezug auf Fingeralphabet
Heute werden Laute weniger durch PMS als durch das Fingeralphabet angezeigt. Dies hat auch die Namensgebung beeinflusst: So leiten sich Namensgebärden heute auch aus dem Anfangsbuchstaben des Vornamens einer Person kombiniert mit bestimmten manuellen Komponenten ab. Dazu ein Beispiel:
(a) Mögliche Namensgebärden für ‘Julia’ – 00:30-00:35
Der Anfangsbuchstabe ‚J‘ lässt sich mit unterschiedlichen manuellen Komponenten kombinieren, welche auf bestimmte Merkmale der bezeichneten Person Bezug nehmen.
Die Vergabe von Namensgebärden an gehörlose Personen, welche auf den genannten vier Inspirationsquellen beruhen, geschieht nicht ad hoc, sondern braucht Zeit.
Auch immer mehr Hörende zeigen Interesse an der Gebärdensprache, wollen diese lernen und nehmen an der Gemeinschaft der Gehörlosen aktiv teil. Sie fragen nach Namensgebärden und in vielen Fällen (diverse Gründe) erhalten sie auch welche. Im Gegensatz zu früher, als die Namensgebärden für hörende Personen nicht preisgegeben wurden, werden ihnen diese heute offen kommuniziert. Bis die passende Namensgebärde gefunden ist, braucht es aber ebenfalls Zeit. Aufgrund der grossen Anzahl an zu schaffenden Namensgebärden nutzen die gehörlosen Namensgeber:innen eine zusätzliche Quelle, die Hobbys der hörenden Personen. So kann eine Person, welche gerne strickt, die Namensgebärde ‘STRICKEN’ erhalten.
Ob in Zukunft weiterhin die aufgezeigten Inspirationsquellen für die Namensgebung genutzt werden oder ob es andere geben wird, wird sich zeigen.
Genauso wie unterschiedliche Personen denselben gesprochenen/geschriebenen Vornamen (zum Beispiel Martin) besitzen können, kann es auch vorkommen, dass unterschiedliche gehörlose Personen dieselbe Namensgebärde haben.
(a) Namensgebärde für ‚Franz‘/‘Franziska‘ – 00:25-00, 00:26
Namensgebärden, welche auf PMS basieren, werden heute kaum mehr vergeben, existieren aber noch. Für unterschiedliche Vornamen, die mit dem gleichen Buchstaben beginnen (zum Beispiel ‘Sonja’ und ‘Sandra’), wurde manchmal dieselbe Namensgebärde vergeben. Unterschieden werden sie durch das Mundbild:
(b) Namensgebärde für ‚Sandra‘ und ‚Sonja‘ – 00:48-00, 00:50
Es kann auch vorkommen, dass verschiedene Personen mit unterschiedlichen Vornamen dieselbe Namensgebärde besitzen, die Namensschöpfung in jedem Fall aber unterschiedlich motiviert ist.
Namensgebärden werden meist durch das Mundbild des Vornamens begleitet
(a) ‚Markus‘ – 00:11-00, 00:12
(b) ‚Ursula‘ – 00:12-00, 00:13
(c) ‚Regula‘ – 00:14-00, 00:15
Bei häufigen Vornamen wie ‘Markus’ wird zur Unterscheidung der bezeichneten Personen auf dem Mundbild zusätzlich der Nachname angezeigt:
(d) ‚Markus Meier‘ – 00:30-00, 00:31
(e) ‚Markus Müller‘ – 00:32-00, 00:33
Um einen Nachnamen besser ablesen zu können, wird oft ein Teil davon durch eine inhaltlich entsprechende Gebärde visualisiert:
(a) Nachname ‚Tischler‘ – 00:28-00, 00:30
Der Nachname wird durch die Gebärde ‘TISCH’ visualisiert und vom Mundbild ‘Tischler’ begleitet.
(b) Nachname ‚Müller‘ – 00:34-00, 00:36
Der Nachname wird durch die Gebärde ‘MAHLEN visualisiert und vom Mundbild ‘Müller begleitet.
Diese Visualisierung ist auch bei zusammengesetzten Nachnamen hilfreich:
(b) Nachname ‚Glasmann‘ – 00:41-00, 00:43
Der Nachname wird durch die Gebärden ‘GLAS’ und ‘MANN’ visualisiert und vom Mundbild ‘Glasmann begleitet.
Namensgebärden haben für die sprachlich-kulturelle Minderheit gehörloser Personen einen enorm hohen Stellenwert. Sie schaffen Identität und bestätigen die Zugehörigkeit zur dieser Gemeinschaft.
Jede Namensschöpfung braucht ihre Zeit, denn sie muss erst durch unterschiedliche Quallen, wie oben beschrieben, inspiriert werden.
Immer mehr hörende Personen, welche im Gehörlosenwesen aktiv sind, sind ebenfalls an einer Namensgebärde interessiert. Dies braucht aber auch Zeit und Geduld und es muss respektiert werden, dass die Namenschöpfung voraussetzt, dass sich hörende und gehörlose Personen erst gegenseitig kennenlernen, bei der Arbeit gemeinsam Zeit verbringen, im Austausch sind und dadurch Vertrauen aufgebaut werden kann.
Hörende, nicht im Gehörlosenwesen tätige Personen, erhalten dann Namensgebärden, wenn sie für gehörlose Personen von Bedeutung sind (öffentliche Personen, Informationsquellen). Sie wissen aber nicht über ihre Namensgebärden Bescheid, diese dienen nur dazu, dass sie für die Gemeinschaft der Gehörlosen identifizierbar sind.
Das Bekunden von Respekt, eine wertschätzende Haltung und Geduld sind wichtige Voraussetzungen für das Erhalten einer Namensgebärde.
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