Auf dem untenstehenden Bild ist das Fingeralphabet (ABC) zu sehen. Es wird von den Benutzenden der DSGS auf verschiedene Weise verwendet. Im Folgenden werden die Entstehung und Entwicklung des Fingeralphabets im Laufe der Zeit, seine Aufgaben und Funktionen besprochen und es wird aufgezeigt, inwiefern das Fingeralphabet Einfluss auf die DSGS genommen hat.
Das Fingeralphabet ist ein Hilfsmittel, welches auf der Schriftsprache basiert und dazu dient, die einzelnen Buchstaben eines Wortes/des Alphabets mit unterschiedlichen Handkonfigurationen nachzubilden. Die Schreibweise eines Wortes jeder beliebigen Sprache kann auf diese Weise buchstabiert und somit vom Gegenüber besser abgelesen und erfasst werden.
Unterschiedliche Länder haben ähnliche oder auch ganz unterschiedliche Systeme von Fingeralphabeten entwickelt; es existieren sowohl einhändige wie auch zweihändige Fingeralphabete.
Auf folgendem Bild ist das Fingeralphabet der deutschen Schweiz dargestellt. Es findet unterschiedliche Verwendung und hat sich im Laufe der Zeit in gewisser Weise in die DSGS integriert. Wie es dazu gekommen ist, dass ein Hilfsmittel wie das Fingeralphabet eine natürliche Sprache wie die DSGS beeinflusst und zu geringfügigen Veränderungen der DSGS geführt hat, wird im Folgenden erläutert.
Das Fingeralphabet, das dem in anderen deutschsprachigen Ländern verwendeten ähnlich ist, wurde in der Schweiz von den Gebärdenden der DSGS in der Zeit zwischen 1975 und 1980 eingeführt. Es war von Beginn an lediglich als Hilfsmittel zur Darstellung der Schreibweise von Wörtern gedacht und wurde nur in Ausnahmefällen benutzt, wenn die Schreibweise eines Wortes nicht abgelesen werden konnte. In dieser Funktion handelt es sich beim Fingeralphabet – auch heute noch – also um eine Form der Umstellung auf ein Wort aus der geschriebenen beziehungsweise gesprochenen Sprache. Es wurde und wird oft für Begriffe verwendet, für die es keine konventionalisierten Gebärden gibt (u.a. für Personen- oder Ortsnamen oder Fachbegriffe, die entweder neu sind oder in der örtlichen Gehörlosengemeinschaft nicht oft verwendet werden).
Heute wird das das Fingeralphabet von allen Benutzenden der DSGS auf verschiedene Weise verwendet. Nun stellt sich die Frage, ob es sich dabei immer noch nur um ein Hilfsmittel handelt oder ob es Teil der Gebärdensprache geworden ist. Welche Überschneidungen beziehungsweise Berührungspunkte zwischen Fingeralphabet und Gebärdensprache es heute gibt, welche Funktionen das Fingeralphabet heute übernimmt, wird im Folgenden aufgezeigt.
Zu erwähnen ist an dieser Stelle die Abneigung der DSGS-Gemeinschaft gegen das Buchstabieren aus verschiedenen historischen und individuellen Gründen (u.a. Abwertung der Gebärdensprache gegenüber der Lautsprache).
Jedem Buchstaben des Alphabets entspricht eine eigene Handkonfiguration. Für die Umlaute Ä, Ö und Ü sowie die Buchstabenkombinationen CH und SCH existieren ebenfalls eigene Handkonfigurationen.
(a) Ä – 00:15
(b) Ö – 00:18
(c) Ü – 00:20
(d) CH – 00:24
(e) SCH – 00:27
In der Regel zeigt beim Ausführen des Fingeralphabets die Handfläche der dominanten Hand in der Höhe des Oberkörpers in ruhiger Position nach vorne. Ausnahmen davon bilden zum Beispiel die Buchstaben(kombination) C und CH (Handfläche zeigt nach links beziehungsweise nach rechts), G und H (Handfläche zeigt Richtung Körper) oder P und Q (Handfläche zeigt nach links beziehungsweise nach rechts).
Die Bewegung beim Ausführen des Fingeralphabets kann unterschiedlich sein. Eine langsame Ausführung jeder einzelnen Handkonfiguration verweist auf das deutliche Buchstabieren eines Wortes; die einzelnen Buchstaben werden aneinandergereiht. Jede Handkonfiguration wird dabei mit einer leichten Vorwärtsbewegung des Unterarms ausgeführt und dieser wandert oft mit jedem neuen Buchstaben etwas nach rechts beziehungsweise nach links. Zur Veranschaulichung ein Beispiel mit dem buchstabierten Wort ‚Bilanz‘:
(a) Langsames, deutliches Buchstabieren: ‚B-I-L-A-N-Z‘
FA: B-I-L-A-N-Z
00:28-00:33
Alle Buchstaben werden voneinander abgegrenzt, indem jeder einzelne Buchstabe langsam und deutlich ausgeführt wird, analog dem Buchstabieren eines Wortes in der gesprochenen Sprache, so dass die exakte Schreibweise des Wortes erfasst werden kann.
Ein Wort kann aber auch fliessend buchstabiert werden, wie folgendes Beispiel zeigt:
(b) Fliessendes Buchstabieren: ‚BILANZ‘
FA: BILANZ (fliessend)
00:43-00:44
Hier werden die Buchstaben nicht voneinander abgegrenzt, es wird nicht exakt Buchstabe um Buchstabe dargestellt; die einzelnen Buchstaben fliessen ineinander über.
Auf die Bedeutung der unterschiedlichen Bewegungsausführungen (Tempo, Fluss) eines gefingerten Wortes während des Gebärdens wird im Folgenden genauer eingegangen.
Eine langsame Ausführung jedes Buchstabens weist darauf hin, dass die korrekte Schreibweise zum Beispiel eines Fremdwortes oder eines Fachbegriffs vermittelt und erfasst werden soll.
Bereits bekannte Begriffe hingegen werden während des Gebärdens fliessend ausgeführt. Dieses fliessende Buchstabieren ist zu verstehen als Element einer Kontaktsprache zwischen einer Gebärdensprache und einer Schriftsprache. Personen, welche die Gebärdensprache benutzen, haben oft Kontakt mit anderen Sprachen und passen sich mit der Übernahme des gefingerten Fremdworts in die eigene Gebärdensprache dieser anderen Sprache an.
Das Fingeralphabet ist aber auch Teil der Gebärdensprache geworden, in dem es diese auf unterschiedliche Art und Weise beeinflusst hat. Nach welchen Kriterien dies geschieht, wird in den folgenden Kapiteln aufgezeigt.
Fliessend gefingert werden zum Beispiel häufig verwendete und bereits bekannte Namen (Namen von Personen, Namen von nicht bekannten Ortschaften, für die keine entsprechende Gebärde existieren, Städtenamen, Namen von Bergen, Flüssen etc., Firmennamen, Namen von Läden und Geschäften) oder Abkürzungen (zum Beispiel öffentlicher Verkehr oder politische Parteien). Dazu ein Beispiel:
(a) Fliessendes Buchstabieren: ‚EBIKON‘
ICH WOHNEN IXa FA:EBIKON(fliessend) II
‘Ich wohne in Ebikon.’
00:00-00:07
Ebikon wurde hier fliessend buchstabiert. Bei einer Rückfrage zur exakten Schreibweise könnte das Wort jedoch langsam und deutlich buchstabiert werden, bevor weiter gebärdet wird:
(b) Langsames, deutliches Buchstabieren: ‚E-B-I-K-O-N‘
FA: E-B-I-K-O-N
00:12-00:16
Die Anpassung der Ausführungsbewegung und ihres Tempos erfolgt jeweils aufgrund der Reaktion des Gegenübers, welches Verstehen beziehungsweise Nichtverstehen signalisiert.
Fliessend gefingert werden zum Beispiel häufig verwendete und bereits bekannte Namen (Namen von Personen, Namen von nicht bekannten Ortschaften, für die keine entsprechende Gebärde existieren, Städtenamen, Namen von Bergen, Flüssen etc., Firmennamen, Namen von Läden und Geschäften) oder Abkürzungen (zum Beispiel öffentlicher Verkehr oder politische Parteien). Dazu ein Beispiel:
(a) Fliessendes Buchstabieren: ‚EBIKON‘
ICH WOHNEN IXa FA:EBIKON(fliessend) II
‘Ich wohne in Ebikon.’
00:00-00:07
Ebikon wurde hier fliessend buchstabiert. Bei einer Rückfrage zur exakten Schreibweise könnte das Wort jedoch langsam und deutlich buchstabiert werden, bevor weiter gebärdet wird:
(b) Langsames, deutliches Buchstabieren: ‚E-B-I-K-O-N‘
FA: E-B-I-K-O-N
00:12-00:16
Die Anpassung der Ausführungsbewegung und ihres Tempos erfolgt jeweils aufgrund der Reaktion des Gegenübers, welches Verstehen beziehungsweise Nichtverstehen signalisiert.
Wird ein Begriff während des Gebärdens fliessend und in schnellem Tempo ausgeführt, wird nicht zwingend jeder Buchstabe dargestellt, sondern oft nur der erste und der letzte. Ein nicht vollständig buchstabiertes Wort wird aufgrund des Bewegungsablaufs verstanden, vorausgesetzt, das Wort wurde im Gespräch schon einmal verwendet oder die gebärdende Person geht davon aus, dass es dem/der Adressat:in bereits vertraut ist.
Der Unterarm bleibt während des fliessenden Buchstabierens ruhig. Es wird keine Vorwärtsbewegung bei jedem Buchstaben und keine Wanderbewegung nach rechts beziehungsweise links ausgeführt und die Handfläche zeigt mehrheitlich nach vorne, auch bei Buchstaben, bei denen die Handfläche sonst nach rechts beziehungsweise nach links zeigt, das Handgelenk rotiert in diesen Fällen also weniger.
Fliessend ausgeführtes Fingeralphabet wird zum Beispiel oft benutzt für Akronyme (Abkürzungen) (politische Parteien, öffentlicher Verkehr, etc.), die im alltäglichen Leben von Bedeutung sind. Das fliessende Buchstabieren von solch gebräuchlichen Akronymen hat nicht mehr die Funktion eines Hilfsmittels, sondern von lexikalisierten Gebärden, welche zu festen, wiederkehrenden Bestandteilen der DSGS geworden sind. Beispiele dafür finden sich in den folgenden Kapiteln.
(a) S-B-B ->S-B
Frage: ______________j/n?
IX-2(du) DA FA:SB(flüchtig-schnell) ABO IX-2(du) II
Antwort:
KLAR IX-1(ich) DA FA:SB(flüchtig-schnell) ABO II
‘Hast du ein SBB-ABO? Ja, klar hab ich ein SBB-ABO.’
00:30-00:36
Das Akronym ‘SBB’ wird fliessend buchstabiert, wobei ein ‘B’ weggelassen wird. Diese Komprimierung macht die Abkürzung S-B zu einer lexikalisierten Gebärde (glossiert als SBB). In dieser komprimierten Form wird sie wie eine Gebärde produziert und wahrgenommen.
(b) C-O-O-P -> C-P
CP (FA: C-O-O-P)
00:02-00:06
Das ursprünglich vollständig buchstabierte Akronym‘ C-O-O-P’ ist zur lexikalisierten Gebärde ‘CP’ der DSGS geworden. Es gibt mehrere lexikalisierte Gebärden, welche durch solche Komprimierung entstanden sind.
(a) W-O-R-T-SCH-A-T-Z -> W-S
WS: (WortSchatz)
00:02-00:03
Die lexikalisierte Gebärde für die deutsche Wortzusammensetzung (Kompositum) ‘Wortschatz’ ist aus seinen beiden Anfangsbuchstaben (‘Wort-Schatz’) entstanden.
Es gibt nur wenige lexikalisierte Gebärden, welche durch solche Komprimierung entstanden sind.
Es gibt lexikalisierte Gebärden, welche gebildet wurden durch die Kombination des ersten Buchstabens eines deutschen Wortes mit bestimmten manuellen Komponenten, wie folgende Beispiele zeigen. Voraussetzung für ihre Integration als lexikalisierte Gebärden in die DSGS ist die Akzeptanz der Gemeinschaft der DSGS-Nutzenden.
Einhändige Gebärden
(a) ‚G‘ -> ‚GYMNASIUM‘
00:14-00:15
(b) ‚U‘ -> ‚UNIVERSITÄT‘
00:16-00:17
Zweihändige synchrone Gebärden
(c) ‚T‘ -> ‚TEAM‘
00:22-00:23
(d) ‚V‘ ->‚VEREIN‘
00:25-00:26
Gebärde ‚ VEREIN ‘.
(e) ‚K‘ -> ‚KURS‘
00:27-00:29
Zweihändige asynchrone Gebärden
(f) ‚K‘ -> ‚KONZEPT‘
00:31-00:33
(g) ‚C‘ -> ‚CURRICULUM‘
00:33-00:34
Es gibt einige deutsche Wortzusammensetzungen (Komposita), die in DSGS dargestellt werden, indem der Anfangsbuchstabe des entsprechenden Wortes mit einer Gebärde kombiniert wird, die bereits für das zweite Wort existiert. Zusätzlich werden bestimmte manuelle Komponenten genutzt.
Zwei Beispiel dafür sind die lexikalisierten Gebärden ‘PRIMARSCHULE’ und ‘SEKUNDARSCHULE’.
(a) ‚ PRIMARSCHULE’ ‘
00:20-00:21
(b) ‚ SEKUNDARSCHULE’ ‘
00:22-00:23
Die Bedeutung unterschiedlicher Bewegungsausführungen von Gebärden, welche aus einem einzigen Buchstaben bestehen (stellvertretend für Eigennamen), wird anhand folgender Beispiele aufgezeigt:
Schnelle Hin- und Her-Bewegung bei Vornamen
(a) ‘S’ für ‘SUSANNE’
00:20-00:21
Die schnelle Hin- und Herbewegung des Anfangsbuchstabens ‘S’ begleitet vom Mundbild ‘Susanne’ steht stellvertretend für den vollständigen Vornamen ‘SUSANNE’. Analog dazu wird mit anderen Eigennamen verfahren (‘M’, ‘L’ etc.). Diese Möglichkeit wird oft benutzt.
Bewegung bei Vor- und Nachnamen / bei mehreren Vor-/Nachnamen
(b) ‘SUSANNE MÜLLER’
00:35-00:36
Beim Angeben von Vor- und Nachname (oder von mehreren Vor-/Nachnamen) fällt die schnelle Hin- und Herbewegung weg. Die einzelnen Anfangsbuchstaben werden nacheinander an unterschiedlichen Ausführungsstellen (nach rechts bzw. nach links) produziert.
Für gehörlose Menschen mit einer zusätzlichen Sehbehinderung (taubblinde Personen, Personen mit Usher-Syndrom) wird das taktile Fingeralphabet benutzt. Dieses wird mit kleineren Bewegungen ausgeführt. Einzelne Buchstaben, welche aufgrund ihrer Ähnlichkeit beim Ertasten leicht verwechselt werden könnten, werden durch folgende Modifikationen der manuellen Komponenten unterscheidbar.
L / D D: Wechsel der Handstellung
Um die Buchstaben ‚D‘ und ‚L‘ unterscheiden zu können (der ausgestreckte Finger wird ertastet), werden sie mit unterschiedlichen Handstellungen ausgeführt.
S / O / E O: Wechsel der Handstellung E: Finger hoch/eng-gebeugt
Um die Buchstaben ‚S‘‚ O‘ und ‚E‘ nicht zu verwechseln, wird beim ‚O‘ die Handstellung verändert und beim ‚E‘ werden die Finger geöffnet, so dass ein Abstand zwischen Daumen und den andern Finger entsteht. Das ‚S‘ bleibt unverändert.
G / P P: Mit Mittelfinger
Zur Unterscheidung von ‚G‘ und ‚P‘ wird beim ‚P‘ zusätzlich der Mittelfinger ausgestreckt und die Handstellung verändert sich.
V / K K: Daumen zwischen V
Zur Unterscheidung von ‚V‘ und ‚K‘ umfasst beim ‚K‘ der Daumen nicht den kleinen und den Ringfinger, sondern streckt sich in den V-Ansatz.
A / S A: Daumen ausgestreckt
‘A’ und ‘S’ werden unterschieden, indem sich beim ‘A’ der Daumen von der Faust löst und ausgestreckt wird.
R / U R: gekreuzt und gestreckt
Zur Abgrenzung des ‘R’ vom ‘U’ werden beim ‘R’ die Finger stärker überkreuzt und gestreckt als beim nicht taktilen Fingeralphabet.
U /V V: Zeige- und Mittelfinger stärker gespreizt und gestreckt
Um das ‘V’ vom ‘U’ unterscheiden zu können, werden die Finger beim ‘V’ viel stärker gespreizt und gestreckt als beim nicht taktilen Fingeralphabet.
I / Y Y: Wechsel der Handstellung/Armstellung
Beim ‘Y’ wird die Hand/der Unterarm nach rechts (bzw. nach links) gekippt, so dass der Kleinfinger nicht wie beim ‘I’ nach oben zeigt, sondern schräg gestellt und gut ertastbar ist.
Alle diese Modifikationen werden dann angewendet, wenn ein Begriff langsam und exakt buchstabiert wird. Für Personen, welche mit dem taktilen Fingeralphabet bereits gut vertraut sind, kann auch fliessend – mit den genannten Modifikationen – buchstabiert werden.
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