Produktive Verbformen werden durch die Anwendung der folgenden verschiedenen Bilderzeugungstechniken gebildet: substitutive, manipulative, massanzeigende, skizzierende, stempelnde und indizierende Technik. Obwohl diese Bilderzeugungstechniken nicht nur für Verbformen verwendet werden, werden sie hier alle beschrieben.

Mit einer produktiven Verbform können Aspekte von Referent:innen (Form, Position, Orientierung, Bewegung, Handhabung) oder ihre Aktionen so realitätsnah wie möglich beschrieben werden. Was genau auf diese Weise beschrieben wird, hängt vom Kontext ab, davon, worauf der/die Gebärdende den Fokus legen will. Produktive Verbformen haben also keine einheitliche Grundform (wie etwa die Gebärden ‘APFEL’ oder ‘ARBEITEN’); die Form und die Bedeutung ist kontextabhängig.

Daher werden diese Formen hier glossiert, indem sie als produktiv (PROD) bezeichnet werden und die Informationen, die in ihrer Verwendung in einem bestimmten Kontext enthalten sind, nachher und in einem Subskript vermerkt werden (z.B. PROD-stehen(Auto)a ).

Ein Modalverb unterstützt ein Hauptverb (z. B. ‘ARBEITEN’, ‘LESEN’, ‘KAUFEN’).

Die Satzstruktur, die Reihenfolge der Gebärden in einem Satz mit einem Modalverb (ModV), sieht folgendermassen aus: Falls es kein Objekt gibt, ist das Modalverb üblicherweise direkt vor dem Hauptverb positioniert: S-ModV-V. Wenn ein Objekt vorhanden ist, wird das Modalverb vor das Objekt gesetzt: S-ModV-O-V.

 

Ein Beispiel ohne Objekt (S-ModV-V):

 

(a) ICH  MÜSSEN  ARBEITEN   ||00.31-00:33

‘Ich muss arbeiten.’

 

Ein Beispiel mit Objekt (S-ModV-O-V):

 

(b) ICH  MÜSSEN  BROT  KAUFEN   ||00.41-00:44

‘Ich muss Brot kaufen.’

 

Am Ende des Satzes wird das Modalverb oft wiederholt, was vermutlich in den meisten Fällen die Funktion hat, eine Betonung hinzuzufügen:

 

(c) ) ICH  MÜSSEN  BROT  KAUFEN  |  MÜSSEN   ||01.05-01.09

‘Ich muss (!) Brot kaufen.

Die Negationsform eines Modalverbs wird auf verschiedene Arten ausgedrückt. Das Modalverb ‘KÖNNEN’ wird ohne zusätzliche Gebärde verneint, indem die s-Handform eine (α)-Bewegung ausführt. Dies kann sowohl einhändig wie auch zweihändig erfolgen:

 

(a) 2 Versionen: 1H:KANN-NICHT    2H:KANN-NICHT00:15-00:18

‘Ich kann nicht.’

 

Die restlichen Modalverben benötigen zusätzlich eine der folgenden Gebärden für die Verneinung (einige werden mit, andere ohne Mundbild ausgeführt):

 

NICHT  |  NICHT(Hf-B/5)  | NICHT++  |  NICHT(Hf-B/5)++    – 00:28-00:32

Modalverben sind meistens unterstützende Hilfsverben. Sie drücken einen Wunsch, einen Willen, eine Absicht, eine Möglichkeit, eine Pflicht oder einen Zwang aus. Modalverben stehen in der Regel in Kombination mit einem anderen Verb, um dessen Bedeutung zu präzisieren oder zu verändern.

 

Die DSGS kennt folgende lexikalisierte Modalverben:

 

(a) MÜSSEN – 00:17

‘muss’

 

(b) KÖNNEN – 00:19

‘kann’

 

(c) DÜRFEN – 00:21-00:22

‘darf’

 

(d) WOLLEN (3 Varianten) – 00:26-00:29

‘will’

 

(e) SOLLEN – 00:31-00:32

‘soll’

 

(f) MÖCHTEN – 00:34-00:35

‘möchte’

 

‘Möchten’ wird oft ohne, kann aber auch mit Mundbild gebärdet werden:

 

(g) MÖCHTEN ohne und mit Mundbild – 00:38-o0:41

‘möchte’

 

Bei den restlichen Modalverben ist ein begleitendes Mundbild in der Regel obligatorisch. Es steht meistens in der 1. Person Singular. In einem Satz zum Beispiel, der «wir alle können» bedeutet, lautet das begleitende Mundbild ‘darf’.

Ortswechsel-Verben bezeichnen die Bewegung einer Person oder eines belebten oder unbelebten Objekts zwischen unterschiedlichen Orten (von-nach). Zusätzlich kann auch der grobe Verlauf dieser Bewegung vermittelt werden (‘wie’ von-nach?).

Pfad-Verben bezeichnen den Weg von einem Ausgangsort zu einem Zielort; sie funktionieren als eine Art Wegweiser/Pfeil (geradeaus, nach rechts, nach links, nach oben, nach unten).

Ortswechsel-Verben und Pfad-Verben werden entweder mit der Zeigefinger-Handform oder der B-Handform gebildet:

 

Handformen, verwendet in Ortswechsel-Verben und Pfad-Verben

– 00:10-00:16

Zeigefinger-Handform  –  B-Handform

Ortswechsel-Verben

Bei Ortswechsel-Verben sind die Fingerkuppen zu beachten. Sie zeigen eine imaginäre Linie an, die den Ausgangs- und Zielort miteinander verbinden.

– 00:28-00:30

Fingerkuppe/n (von-nach)

Fingerkuppe/n (von-nach)

Einige Beispiele zu den Ortswechsel-Verben (a-e):

 

(a)

dH: ICH  ZÜRICH  IXa   aVON-BISb   ST-GALLEN  |  ICH  IX-ORTSW(a-b)  ||00:38-00:44

ndh: IXa>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> || 

‘Ich pendle zwischen Zürich und St. Gallen’.

 

Die Wiederholung der Bewegung drückt aus, dass Hin- und Rückweg regelmässig zurückgelegt werden (‘pendeln’).

 

(b)   BALL  PROD-fortbewegen(Ball rollt)    IX-ORTSW(Pfad+wie:hüpfen)   || 00:50-00:54

‘Der Ball rollt vom Tisch und hüpft über den Boden’.

 

Mittels Bewegung wird hier veranschaulicht, wie sich der Ball fortbewegt (‘rollen’ und ‘hüpfen’).

 

(c) VOGEL  FLIEGEN  |   IX-ORTSW(Pfad:a-b(nmk: ‘schnell’)  || – 00:56-00:58

‘Ein Vogel fliegt schnell vorbei’.

 

Bewegung und Mundform geben Auskunft zur Bewegungsgeschwindigkeit (‘schnell vorbeifliegen’).

 

(d) ICH  BASEL  ICH  IXa  1GEHEN-DORTa  ||01:29-01:31

‘Ich gehe nach Basel.’

 

Alle vier Fingerkuppen zeigen in Richtung Zielort, die Bewegung wird ebenfalls in diese Richtung ausgeführt.

 

(e) ICH  UNIVERSITÄT  IXa(mb: ‘diese’)  ICH  1GEHEN-DORTa  ||01.34-01:36

‘Ich gehe zu dieser Universität.’

 

Auch in diesem Beispiel orientieren sich Fingerkuppen und Bewegung in Richtung Zielort.

 

 

Pfad-Verben

Bei Pfad-Verben ist der ganze Zeigefinger oder die ganze Handfläche (B-Hand) zu beachten. Diese zeigen und bewegen sich wie ein Pfeil oder Wegweiser vom Ausgangsort in die Richtung des Zielortes und zeichnen somit einen imaginären Pfad nach.

– 0:24-0:26  /  0:32-0:33

Zeigefinger als

Pfeil/Wegweiser

B-Hand als

Pfeil/Wegweiser

Mit einem Pfad-Verb kann die Route von einem Ort zum anderen aufgezeigt werden wie in folgender Antwort auf die Frage nach dem Weg zum Supermarkt ‘Coop’:

(i)

dH: Geste(‘ah’)  IXPFADa->b  IXb(dort)  COOP  ||

ndH: IXa (hier)>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>  || 

‘Auf diesem Weg zu Coop gehen.’

– 01:11-01:14

 

Der Zeigefinger funktioniert hier als Pfeil, welcher zum Zielort hinführt. Alternativ kann die flache B-Handform benutzt werden:

– 01:19-01:20

Eine Tätigkeit, ein Geschehen, ein Vorgang oder ein Zustand kann abgeschlossen oder unvollendet sein, andauern, sich in unterschiedlichen Zeitabständen wiederholen usw. Dieser Zeit-Aspekt wird am einfachen Verb und am übereinstimmenden Verb markiert mittels Bewegungsausführung:

 

(a) ICH ARBEITEN++(nmk:‘viel’, ‘andauernd’)00:17-00:19

‘Ich bin ununterbrochen am Arbeiten.’

Die mehrmalige Wiederholung des Verbs ‘ARBEITEN’, die auf der Zeitlinie nach vorne fortschreitende Bewegung und die Mimik weisen darauf hin, dass lange und ohne Unterbruch gearbeitet wird.

 

(b) IX-3  3FRAGEN1++++(nmk:‘missfallend’) ||00:39-00:42

‘Er/sie fragt mich andauernd.’

 

In diesem Beispiel (b) wird das Verb ‘FRAGEN’ mehrmals und schnell wiederholt. Die gebärdende Person wird also andauernd (in hoher Frequenz) gefragt. Mimisch wird Missfallen ausgedrückt.

 

(c) 3BESUCHEN1+++(nmk:‘ab-und-zu’)  ||00:53-00:56

‘Er/sie kommt mich ab und zu besuchen.’

 

Dass eine Handlung in einer gewissen Regelmässigkeit, aber in grösseren Zeitabständen ausgeführt wird, zeigt sich an der Wiederholung und dem Tempo der Bewegung. Unterstrichen wird dies durch die Mundform und die Veränderung der Kopfhaltung.

Der Aspekt der Art und Weise (einer Tätigkeit, eines Geschehens, eines Vorgangs oder eines Zustands) wird am Verb markiert mittels Mimik, Bewegung und Ausführungsstelle.

 

Dazu einige Beispiele zur Art und Weise, wie eine Arbeit ausgeführt werden kann:

 

(a) ICH  ARBEITEN(nmk: ‘gewöhnlich’)  ||00:34–00:36

‘Ich bin (in gewohnter Art und Weise) am Arbeiten.’

 

Mundform ‹gewöhnlich›

Mundform und Bewegungsgeschwindigkeit drücken aus, dass die Arbeit in gewohnter Art und Weise ausgeführt wird, leicht von der Hand geht und in üblichem Tempo erledigt wird.

 

(b) ICH  ARBEITEN(nmk: ‘stressig’)  ||00:45–00:47

‘Ich erledige die anstrengende Arbeiten unter Stress.’

 

Mundform ’stressig’

In Beispiel (b) handelt es sich um eine anstrengende Arbeit, die Stress verursacht.

Das Zusammenbeissen der Zähne bei geöffneten Lippen drückt Anstrengung und Anspannung aus.

 

(c) ICH  ARBEITEN(nmk: ‘lustlos’)00:54–00:56

‘Ich verrichte die Arbeit lustlos.’

 

Mundform ‹lustlos’

Dass die Arbeit kein Vergnügen bereitet, lässt sich an der Mundform in Beispiel (c) erkennen.

 

(d) ICH  ARBEITEN(nmk: ‘viel’)01:05–01:27

‘Ich habe viel Arbeit.’

 

Mundform ‘viel’

Dass es sich um eine Menge Arbeit handelt, welche unter Zeitdruck ausgeführt wird, zeigen die aufgeblasenen Wangen und das Tempo, mit welchem die Gebärde ‘ARBEITEN’ ausgeführt wird.

 

(e) ICH  ARBEITEN++(nmk:‘viel’)  ||01:13–01:15

‘Ich habe immer wieder viel Arbeit.’

 

Mundform ‘viel’

Das mehrmalige Wiederholen des auf diese Weise ausgeführten Verbs bringt zum Ausdruck, dass regelmässig viel gearbeitet wird.

In Gebärdensprache ist es möglich, mehrere Informationen simultan zu übermitteln, da beide Hände gleichzeitig eingesetzt werden können:

 

(a) ZWEI  PERSON  PERSON   dH:3a ndH:3b SCHAUEN1 ||00:12-00:14

‘Zwei Personen schauen sich an.’

 

(b) ZWEI  PERSON  PERSON  BUCH    dH:3a ndH:3b GEBEN:3b ndH:3a  ||00:15-00:17

‘Zwei Personen tauschen ihre Bücher aus.’

 

In den Beispielen (a) und (b) wird dieselbe Handlung von zwei verschiedenen Referent:innen gleichzeitig und wechselseitig vollzogen. Die Verben (a) ‘SCHAUEN’ und (b) ‘GEBEN’ werden daher simultan und mit gespiegelter Bewegung ausgeführt.

Es können auch unterschiedliche Verben gleichzeitig produziert werden, wie folgendes Beispiel zeigt:

 

(c)

dH:                                 ICH  1FRAGEN2  ||

ndH:  3aSCHAUEN1 >>>>>>>>>>>>>>>>>>>  ||00:23-00:25

‘Während er/sie (A) mich anschaut, frage ich (B) ihn/sie.’

Das übereinstimmende Verb steht im Satz meist zwischen Subjekt und Objekt (S-V-O). Die Verortung des Objekts wird dabei bereits durch die Bewegungsausführung des Verbs vorweggenommen, das Ende der Bewegungsausführung ist mit dem Objekt identisch:

 

(a)

z.B. 1FRAGEN3

 

Weniger effizient sind Satzstellungen mit dem übereinstimmenden Verb am Schluss: S-O-V und O-S-V.

 

Beispiele: Alle drei Möglichkeiten S-V-O, S-O-V und O-S-V:

 

(b) S-V-O

ICH  1FRAGEN3a   FRAU   IX-3a  ||00:41-00:43

‘Ich frage die Frau.’

 

(c) S-O-V

ICH  FRAU   IX-3a    1FRAGEN3a  || – 00:50-00:52

‘Ich frage die Frau.’

 

Diese Satzstellung ist weniger effizient als die erste, da sie eine zweimalige Bewegung erfordert (1.: Verortung ‘FRAU’ und 2.: übereinstimmendes Verb).

 

Ebenfalls mehr Zeit benötigt folgende Anordnung:

 

(d) O-S-V

FRAU   IX-3|   ICH  1FRAGEN3a  ||01:01-01:03

‘Ich frage die Frau.’

 

Durch eine solche Satzstellung wird das Objekt (‘die Frau’) betont (Topikalisierung) und zum zentralen Thema gemacht.

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