(d)
INTEGRATION1   IX(re) GEHÖRLOS  PERSON+(li)2   IX-3pl(li, hf:z)2   SCHWERHÖRIG    IX-3pl(re, hf:5)2   IX(re)2  |  GUT   INTEGRIEREN(li>re)   GESELLSCHAFT3|| 

‘Wie sieht es bei gehörlosen und schwerhörigen Menschen2 aus bezüglich Integration1 in die Gesellschaft3?
00:00-00:10
Auch in diesem Beispiel wird die unterschiedliche Anordnung von Informationen deutlich.

(c)
TISCH(re) 1   PROD-Form(Schale)2   FRÜCHTE3   PROD-Menge(Früchte)   KATZE4   PROD-springen(Katze auf Tisch, li_oben-re)  |   PROD-sitzen(neben der Schale)   |   PROD-springen(Katze auf Boden, re-unten)   |   PROD-Form-(Schale kippen)    |   PROD-rollen(Früchte fallen/rollen auf dem Boden)   || 
‘Die Katze4 springt von rechts in die Früchte3schale2 auf dem Tisch1, setzt sich hinein und wirft sie beim Hinausspringen um, so dass alle Früchte auf dem Boden davon rollen.
00:00-00:08

In Gebärdensprache muss zunächst die Situation/die Szene beschrieben werden (in diesem Beispiel die vorhandenen Dinge und Lebewesen) und dann folgen Informationen zur Handlung.

(b)
BUCH1   SEITE    ZWÖLF2    ZWEI   SPALTEN3   LINKS4    MITTE5    IX5    FETT     LEUCHTEND6   IX(diese)    LESEN    ||
‚Bitte lies/lesen Sie das Fettgedruckte6 in der Mitte5 der linken4 Spalte3 auf Seite 122 des Buches1 lesen.‘
00:00-00:09

In Gebärdensprache richtet sich der Fokus zuerst auf das Buch, dann auf eine ausgewählte Seite, anschliessend wird die genaue Spalte und dann die ungefähre Zeile benannt. Hier bezieht sich die Reihenfolge also auf den ‘Standort’ und die ‘Unter-Standorte’.

(a)
CHEF1   WEG   STELLVERTRETUNG2   PERSON2   IX2    POSS2 SEKRETÄR    PERSON3   FRAU   IX3    ARBEITEN   ACHZIG   PROZENT    ||
‚Die Sekretärin3 des Stellvertreters2 meines Chefs1 arbeitet 80%.
00:02-00:11

In Gebärdensprache wird zuerst der Chef, dann sein Stellvertreter und erst danach die Sekretärin erwähnt. Die Reihenfolge bezieht sich also auf den sozialen Status.

Wie im letzten Kapitel erwähnt, kommt die erläuterte Informationsstruktur besonders in der direkten (face-to-face), spontanen Begegnung zum Tragen und ist kontextabhängig.
Mit der Entwicklung der Videotechnologie vor etwa 30 Jahren wurde es möglich, Informationen in Gebärdensprache aufzuzeichnen, festzuhalten und wieder anzuschauen. Nebst spontansprachlichen Texten gibt es also auch die Möglichkeit, einen gebärdensprachlichen Text gezielt vorzubereiten, seinen Aufbau bewusst zu planen, den Text zu überarbeiten und danach mittels Videoaufnahme zu fixieren (dies wird auch als mediale Schriftlichkeit bezeichnet). Die Informationen in einem solch vorbereiteten Text sind wie folgt strukturiert: Themensetzung, Einleitung, Hauptteil und Abschluss. Solch fixierte gebärdensprachliche Texte sind immer häufiger zu sehen. Auch Spontansprache kann heute fixiert werden: In den sozialen Medien gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Videobotschaften in Gebärdensprache festzuhalten und zu teilen.
Die Gebärdensprache verfügt also wie die Lautsprache über zwei Ausdrucksformen. Das Pendant zum Schreiben und Lesen ist das Aufnehmen und Anschauen von gebärdensprachlichen Texten.
Es wird sich zeigen, ob und wie sich die Informationsstruktur in Zukunft verändern wird.

Wie Informationen in Gebärdensprache strukturiert sind, hängt ebenfalls stark vom jeweiligen Kontext ab. Die gebärdende Person kann in face-to-face Situationen oder in der spontanen Kommunikation vom erläuterten Prinzip abweichen. Beeinflussende Faktoren sind auch die Vertrautheit der Beteiligten, das Ziel der Information, die Textsorte (Erzählen, Informieren, Argumentieren, künstlerischer Ausdruck) sowie die wahrgenommene Gebärdensprachkompetenz des/der Adressat:innen. Die Kommunikation zwischen fremden Personen folgt dem erläuterten Prinzip, vertraute Personen können die Einführung ins umfassende Thema überspringen und gleich zu spezifischen Informationen übergehen.

(c)
AUSBILDUNG  IX(a)   WIE   AUFBAUEN  SO   IX(a, hf:b)  ||   PALMUP  |
ERSTE  JAHR   THEORIE  UNTERRICHTEN(ix-1)  ZWEITE  JAHR   METHODE  DIDAKTIK   DRITTE   JAHR   MACHEN   PRAXIS   MACHEN   LERNEN   ||
IXa (2h, hf:,b)  UMFANG  AUSBILDUNG IX(a, 2h, hf:,b)  ||
‘Der Aufbau der Ausbildung sieht folgendermassen aus: Im ersten Jahr liegt der Schwerpunkt auf der Theorie, im zweiten Jahr geht es um Methodik/Didaktik und im dritten Jahr folgt die Praxis. Dies ist der Umfang der Ausbildung.
00:16-00:32

Die rhetorische Frage macht gleich zu Beginn klar, um welches Thema es in den folgenden Erläuterungen geht («Wie ist die Ausbildung aufgebaut?»). Sie wird anschliessend beantwortet, indem der Aufbau/der Umfang der Ausbildung aufgezeigt wird. Die rhetorische Frage entspricht damit dem Prinzip, wie Informationen in Gebärdensprache strukturiert werden.

(d)
POSS-1   ARBEITSZEIT   IXa   WIE   PALMUP?  ||   ACHT-UHR   BIS   ELF(mb:uhr)    ARBEITEN   DANN   ELF(mb:uhr)   BIS   ZWÖLF(mb:uhr)   IX-1(ich)   FREI   |   ZWÖLF(mb:uhr)  BIS(zl:Uhrzeit)    SECHS-UHR   IX-1(ich)   ARBEITEN(durchgehend)   ||   IXa (2h, hf:b,mb:so)  POSS-1  ||
‘Meine Arbeitszeiten sehen wie folgt aus: Ich arbeite von 8.00 bis 11.00, von 11.00 bis 12.00 habe ich Pause und von 12.00 bis 18.00 arbeite ich wieder.’
00:42-00:54

Auch in diesem Beispiel führt die rhetorische Frage ins umfassende Thema ein («Wie sehen meine Arbeitszeiten aus?») und wird anschliessend beantwortet, indem genauere Informationen zu den Arbeitszeiten folgen.

Während rhetorische Fragen in der Gebärdensprache eine Technik sind, um Informationen zu ordnen (auf Satz- und Diskursebene), sind sie in der Lautsprache ein Stilmittel der Rhetorik und werden benutzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. (Auch in Gebärdensprache gibt es die Möglichkeit, eine rhetorische Frage als Stilmittel einzusetzen. Sie wird dann aber viel prägnanter ausgeführt).

(a)
ELEKTRO   AUTO   IX(li)   GUT?   IX-2(du)   ERFAHRUNG   IX(li)   PALMUP  |   PALMUP-W?(mb:welche)   IX(re:a, b, c)   BESTE   PALMUP  |  TEUER   BILLIG  PALMUP   KILOMETER   PALMUP-W?   ||
‘Hast du gute Erfahrungen gemacht mit Elektrofahrzeugen? Welches Elektrofahrzeug schneidet deiner Meinung nach am besten ab bezüglich Preis und Reichweite (Batteriekapazität)?’
00:13-00:23

Im Gegensatz zur Lautsprache wird in Gebärdensprache zuerst explizit das übergeordnete Thema gesetzt («Elektrofahrzeug»). Die Gebärde ELEKTROAUTO steht an erster Stelle.

(b)
GLACE   IX(a)   IX-2(du)   PALMUP   BESTE   LIEBLING   IX-2(du)   IX(a, b, c)  |
ODER   SELBER-2(hf:a)   KOCHEN?   |
ODER   WO?   IX-2(du)   BESTE  HINGEHEN   KAUFEN   IX-2(du)   PALMUP?   ||
‘Welches Glacé magst du am liebsten? Magst du am liebsten selbstgemachstes Glacé oder hast du eine Lieblingsgelateria?’
00:28-00:36

Auch hier wird zuerst explizit das übergeordnete Thema angegeben (‘Glacé’). Die Gebärde GLACÉ steht an erster Stelle.

Rhetorische Fragen

Eine rhetorische Frage ist keine echte Frage, der/die gebärdende beziehungsweise sprechende Person erwartet keine Antwort des Gegenübers. Er/sie führt mit der Frage, die an sich selbst gerichtet scheint, in ein Thema ein, welches anschliessend erläutert wird und die Frage damit beantwortet. Dazu zwei Beispiele:

Das erläuterte Prinzip, welches der Informationsstruktur in Gebärdensprache zugrunde liegt, hat mit der Logik der visuellen Wahrnehmung zu tun. Ein Beispiel mit konkretem Bezug soll dies veranschaulichen: Lebewesen und Dinge schweben in der Regel nicht in der Luft, sie haben normalerweise eine Art Hintergrund (Menschen stehen zum Beispiel auf dem Boden). In der Gebärdensprache muss zuerst dieser Hintergrund erwähnt werden, um anschliessend Lebewesen/Dinge darin platzieren zu können. Dies wurde in Kapitel 17.11 in Beispiel (c) aufgezeigt: Um eine Früchteschale auf einen Tisch stellen zu können, muss zuerst der Tisch ‘vorhanden’ sein. Damit eine Katze in eine Früchteschale springen kann, muss diese zuerst auf den Tisch ‘gestellt’ werden. Wäre kein Hintergrund (Tisch, Früchteschale) vorhanden, würden aus dem Blickwinkel der visuellen Wahrnehmung Früchteschale und Katze herunterfallen. Erst anschliessend an diesen aus Sicht einer visuellen Sprache logischen Aufbau wird eine Handlung beschrieben. Diese Logik gilt auch für abstrakte Bezüge.
Zwei Techniken, welche zur Umsetzung der Informationsstruktur in Gebärdensprache (vom Allgemeinen zum besonderen Detail) genutzt werden, sind die Topikalisierung und rhetorische Fragen.

 

Topikalisierung

Topikalisierung bedeutet, dass zu Beginn das umfassende Thema angegeben wird und anschliessend spezifische Informationen dazu behandelt werden. Diese Technik ist in Gebärdensprache oft anzutreffen. Dazu zwei Beispiele:

Die ausgeprägt visuelle Orientierung gehörloser Menschen beeinflusst die Art und Weise, wie sie die Welt wahrnehmen und damit auch, wie Informationen in Gebärdensprache aufgebaut werden. Das Augenmerk gehörloser Menschen richtet sich zunächst auf das Allgemeine/das Umfassende und erst anschliessend auf das besondere Detail/auf Einzelheiten. Entsprechend werden Informationen strukturiert: Zunächst wird das umfassende Thema bekanntgegeben, dann folgen die wichtigen Informationen dazu und anschliessend erst geht es um spezifischere Informationen. In gesprochenen beziehungsweise geschriebenen Sprachen verhält es sich meist genau umgekehrt. Zunächst geht es in der Regel um Spezifisches/um Einzelheiten und anschliessend wird der Bezug zum Allgemeinen/zum grösseren Ganzen/zum Kontext hergestellt.
Folgende Abbildung und die anschliessenden Beispiele sollen diese unterschiedlichen Prinzipien verständlich machen. Die hochgestellten Ziffern in den Beispielen beziehen sich auf eine Reihenfolge, in der einzelne Elemente auftreten. Bei der Ordnung kann es sich um unterschiedliche Dinge handeln.

  Gebärdensprache         Lautsprache

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