Aus einer Teilnehmenden-Perspektive, wie sie beim Rollenwechsel eingenommen wird, werden unterschiedliche Positionen und Blickwinkel von Referent:innen der Realität entsprechend abgebildet (zum Beispiel die Sitzposition am Tisch und das Auflegen der Arme auf diesen, der Grössenunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern oder zwischen stehenden und sitzenden Personen).

Zwischen der Teilnehmenden- und der Erzähl-Perspektive gibt es in Gebärdensprache allerdings fliessende Übergänge und damit ist auch der Grad an Realitätsnähe unterschiedlich. Dies gilt insbesondere für den CD. Eine subtile Änderung der Kopfhaltung oder des Oberkörpers ist hier ein Indiz dafür, dass die tatsächlichen Positionen und Blickwinkel nicht oder nur teilweise übernommen werden.

Um eine Handlung als CA wiederzugeben, nimmt die gebärdende Person hingegen meist durchgehend die Teilnehmenden-Perspektive ein.

 

Im folgenden Beispiel wird ein Dialog aus der Teilnehmenden-Perspektive rekonstruiert und damit die physischen Positionen und Blickwinkel der Gesprächsteilnehmenden realitätsgetreu wiedergegeben:

(a) Erz: POSS-1  CHEF  UNFALL  IXSPITAL  PROD-liegen(Chef)

Erz: ICH  Teiln(Ich)stehendCA/CD:  WIE-GEHT’S ?

Erz: IX-3(Chef)unten  Teiln(Chef)liegend-schaut-hinaufCD:  JETZT   BESSER   ||  – 01:09-01:30

‘Mein/e Chef:in hatte einen Unfall und liegt nun im Spital. Ich frage ihn/sie, wie es ihm/ihr gehe. Er/sie meint, es gehe ihm/ihr jetzt schon besser.

 

 

In der Rolle der/des Angestellten beugt sich die gebärdende Person vor und blickt nach unten zum/zur liegenden Vorgesetzten. Sie nimmt also genau die Haltung ein, welche der/die Angestellte in der Realität einnehmen würde. In der Rolle des/der Vorgesetzten blickt sie nach oben, genauso wie diese/r zum/zur stehenden Angestellten hochschauen würde.

Konstruierter Dialog (CD) und konstruierte Aktion (CA) überlappen sich oft. Das Verhältnis kann dabei ganz unterschiedlich sein.

Nichtmanuelle und manuelle Komponenten kennzeichnen einen konstruierten Dialog oder eine konstruierte Aktion auf unterschiedliche Weise:

 

Nichtmanuelle Komponenten:

  • Blick: Ist der Blick auf die Adressat:innen gerichtet, so handelt es sich in der Regel um die Erzähl-Perspektive (Video – 0:38-0:39). Wird der Blick jedoch von den Adressat:innen weg auf einen Punkt im Gebärdenraum hin gerichtet, so kann dies auf CD oder CA
    – 00:50-00:55

 

  • Mimik: Die Stärke der Mimik kann auf CA oder CD
  • Mundbilder und Mundformen: Mundbilder sind eher ein Indiz für CD, Mundformen eher für CA
  • Veränderungen der Kopfhaltung weisen sowohl auf CD wie CA

– 01:28-o1:32

  • Veränderungen der Oberkörperhaltung weisen ebenfalls auf CD und CA

– 01:37-01:39

 

Manuelle Komponenten:

  • Die manuellen Komponenten geben darüber Auskunft, ob es sich bei einer Gebärde um eine lexikalisierte oder um eine produktive Gebärde (siehe Kapitel 7) handelt. CD benutzt eher lexikalisierte Gebärden, CA vermehrt produktive Gebärden. Es gibt verschiedene Arten produktiver Gebärden wie Manipulator, Substitutor, Skizze. Ein hoher Anteil an Manipulatoren und Substitutoren sind ein Indiz für CA.

 

Um eine Erzählung abzuschliessen, eine Sequenz mit CA oder CD zu beenden, wird oft wieder die Erzähl-Perspektive eingenommen. Dies wird dadurch signalisiert, dass wieder Blickkontakt mit den Adressat:innen hergestellt wird.

 

Folgende Schilderungen enthalten sowohl CD wie auch CA:

 

(a)

Erz: MUTTERUND  SOHN  IXKÜCHE  ||  BUB  PROD-sitzen(Bub)  HAUSAUFGABEN  SCHREIBEN-MACHEN  |  IXb  BUCH Teiln(Bub)CA: PROD-nehmen(Buch)  PROD-blättern-halten(Buch) Teiln(Bub)CA/CD:  HEY  MAMA  SAGEN  |  Erz: MAMA  Teiln(Mama)CA: PROD-schneiden(Objekt) CA/CD: WAS?  |  Erz: BUB  Teiln(Bub)CA: PROD-nehmen(Buch)  PROD-halten-zeigen(Buch)  |  CA/CD: ICH  NICHT  VERSTEHEN  IXb  WAS  BEDEUTEN  IXb  |  Erz: MAMA  Teiln(Mama)CA:  PROD-schneiden-halten(Objekt)  |  LESENb(Buch)CA/CD:  AH, BEDEUTEN SO-UND-SO  CD:  PROD-schneiden(Objekt)  |  Erz: BUB  Teiln(Bub)CA:  PROD-nehmen(Buch)  |  AH  ERLEICHTERT PROD-schreiben(Buch)  ||  – 00:00-00:27

 

‘Mutter und Sohn befinden sich in der Küche. Der Sohn sitzt am Tisch, blättert einige Seiten in einem Buch um und wendet sich fragend an die Mutter, die gerade am Schneiden/Rüsten ist. Sie möchte wissen, was los ist. Er zeigt auf eine Stelle im Buch und erklärt, dass er nicht verstehe, was das bedeute. Die Mutter hört auf zu schneiden, dreht sich um, liest im Buch und erklärt, was dies bedeute. Danach dreht sie sich wieder weg und schneidet weiter. Der Junge versteht jetzt und dreht das Buch wieder zu sich. Erleichtert schreibt er hinein.’

 

 

Sequenzen Beispiel (a) mit CD und CA:

 

CA Sohn (00:09-00:10): Blättert einige Seiten in einem Buch um.

CD/CA Sohn (00:10-00:11): Mama! / Hält gleichzeitig das BUCH fest.

CA Mutter (00:12-00:13): Ist gerade etwas am Schneiden/Rüsten.

CD (00:13-00:14): Was möchtest du?

CA Sohn (00:15): Dreht das Buch zur Mutter.

CA/CD Sohn (00:15-00:18): Das habe ich nicht verstanden, was bedeutet das? / Hält gleichzeitig das BUCH fest.

CA/CD Mutter (00:19-00:20): Hört auf zu schneiden. / Hält gleichzeitig das Messer. / Liest im Buch und antwortet.

CD Mutter (00:20-00:22): Aha, das bedeutet … .

CA Mutter (00:22-00:23): Dreht sich zurück und schneidet weiter.

CA Sohn: (00:23-00:24): Aha. Dreht das Buch wieder zu sich.

CA Sohn (00:24-00:25): Schreibt erleichtert hinein.

 

Die gebärdende Person beschreibt einleitend die Situation aus der Erzähl-Perspektive (‘Mutter und Sohn befinden sich in der Küche.’). Der Blick ist auf die Adressat:innen gerichtet.

Danach folgt der konstruierte Dialog zwischen Mutter und Sohn. In dieser Sequenz wird nur hin und wieder Blickkontakt mit den Adressat:innen hergestellt, um das Gespräch aufrechtzuhalten. Das Turntaking, also der Wechsel zwischen den Aussagen von Mutter und Sohn, wird markiert durch die Veränderung von Oberkörper- und Kopfhaltung, Blickrichtung und Mimik. Die Handlungen der beiden (‘BLÄTTERN, ‘DREHEN, ‘FRAGEN, ‘SCHNEIDEN, ‘ANTWORTEN’ etc.) werden mit konstruierter Aktion dargestellt. CD und CA überlappen sich zum Teil. Zum Schluss wendet sich die gebärdende Person wieder ganz den Adressat:innen zu und beendet mit dem Schliessen und Senken der Hände die Schilderung.

 

(b)

Erz: MANN  aKOMMENb  TÜR  SCHLÜSSEL  Teiln(Mann)CA:  PROD-nehmen(Schlüssel aus Hosentasche)  PROD-stecken(Schlüssel)  PROD-drücken(Türklinke)  PROD-drehen(Schlüssel)  |   KLAPPT  NICHT  CD: schauta(rechts)  WIESO? ||  Erz: IX-3a FRAU  IX-3Teiln(Frau)CD/CA:  PROD-tippen-anhalten(Schreibobjekt)  AH  |  DU  FALSCH  SCHLÜSSEL  IX|  ICH  RICHTIG  SCHLÜSSEL  ICH PROD-schieben(Schublade)  PROD-nehmen-zeigen(Schlüssel)  RICHTIG  IXErz: MANN  Teiln(Mann)CD:  AH, DANKE ||  – 00:00-00:16

 

‘Der Mann läuft zu einer Türe. Er zieht einen Schlüssel aus seinem Hosensack und will sie aufschliessen. Zu seiner Arbeitskollegin gerichtet meint er ratlos, dass sich die Türe nicht öffnen lasse. Darauf antwortet sie, dass er den falschen Schlüssel genommen habe, der richtige sei bei ihr in der Schublade. Der Mann reagiert erleichtert und bedankt sich bei seiner Kollegin.‘

 

Sequenzen Beispiel (b) mit CD und CA:

 

CA Mann (00:02-00:06): Zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche, steckt ihn ins Schlüsselloch, dreht den Schlüssel und drückt die Klinke mehrmals.

CD Mann (00:05-00:07): Ich kann die Türe nicht öffnen.

CA Frau (00:07-00:08): Ist am Tippen.

CD/CA Frau (00:08-00:10): Das ist der falsche Schlüssel. / Tippt gleichzeitig weiter. / Den richtigen Schlüssel habe ich …

CA/CD Frau (00:10-00:13): … bei mir in der Schublade. Nimmt den Schlüssel aus der Schublade und zeigt ihn ihrem Kollegen. Das ist der richtige. Hält sich gleichzeitig am Tisch fest.

CD Mann (00:13-00:14): Ah, danke.

 

Die gebärdende Person beschreibt einleitend die Situation aus der Erzähl-Perspektive (‘Der Mann geht zu einer Türe.’). Der Blick ist auf die Adressat:innen gerichtet. Danach folgt der konstruierte Dialog zwischen Mann und Frau. Auch in dieser Sequenz wird nur hin und wieder Blickkontakt mit den Adressat:innen hergestellt, um das Gespräch aufrechtzuerhalten. Das Turntaking zwischen den Aussagen von Mann und Frau wird auch hier markiert durch die Veränderung von Oberkörper- und Kopfhaltung, Blickrichtung und Mimik. Die Handlungen der beiden (‘RAUSNEHMEN, ‘EINSTECKEN‘, DREHEN, ‘RÜTTELN’, ‘TIPPEN’ etc.) werden mit konstruierter Aktion dargestellt. CD und CA überlappen sich zum Teil.

Zum Schluss wendet sich die gebärdende Person wieder ganz den Adressat:innen zu und beendet mit dem Schliessen und Senken der Hände die Schilderung.

Wie beim konstruierten Dialog (CD) auch, wird zur Einleitung einer konstruierten Aktion (CA) zunächst die Situation (Thema, Ort, etc.) aus der Erzähl-Perspektive beschrieben, die Beteiligten benannt und im Gebärdenraum verortet. Auf die unterschiedlichen Referent:innen kann danach mit dem Index (Zeigefinger-Handform) Bezug genommen werden. Anschliessend übernimmt die gebärdende Person die Rolle eines/einer Referent:in und stellt die Handlung mittels CA so dar, als wäre sie selbst diese/r Referent:in und würde gerade jetzt die Handlung ausführen:

Erz: IX-3  FRAU  Teiln(Frau)CA:  PROD-schneiden(Objekt)  || – 00:29-00:35

Direkt (Handlung)

‘Die Frau ist am Schneiden von … .’

 

Der Oberkörper der gebärdenden Person dreht sich von den Adressat:innen weg, der Blick ist auf das zu schneidende Objekt gerichtet, die linke Hand ‘hält’ dieses Objekt und die rechte Hand führt eine schneidende Bewegung aus.

Erz: IX-3  BUB  Teiln(Bub)CA:  PROD-schreiben(Stift)  ||  – 00:46-00:49

Direkt (Handlung)

‘Der Junge ist am Schreiben.’

 

Der Oberkörper der gebärdenden Person beugt sich vor, der Blick ist auf ein fiktives Stück Papier gerichtet und die rechte Hand führt eine Schreibbewegung aus.

 

Sind die Referent:innen erst einmal eingeführt, müssen sie im Verlaufe der Schilderung nicht stets erneut benannt werden, es reicht, wenn mittels Index (Zeigefinger-Handform) oder Veränderung von Oberkörperausrichtung auf sie referenziert wird.

 

– 00:56-01:16

Es folgen drei weitere Beispiele konstruierter Aktion. Der Wechsel zwischen Erzähl- und Teilnehmenden-Perspektive kommt durch die Änderung der Blickrichtung sehr deutlich zum Ausdruck.

Konstruierte Aktion CA –  Beispiel 1

 

(a) Erz: EIN  MÄDCHEN  SPIELEN  BALL  Teiln(Mädchen)CA: PROD-prellen(Ball)   GEHEN  PROD-prellen(Ball)   1SEHEN Erz: VIEL BLUME PROD-stehen(Blumen)   Teiln(Mädchen)CA: GEHEN  PROD-hinlegen(Ball)  PROD-pflücken(Blumen)  PROD-halten(Blumentraus, dick)  PROD-nehmen-halten(Ball)  Erz:  GEHEN  HEIM  ||  – 00:00-00:16

 

‘Ein Mädchen spielt mit dem Ball. Es prellt ihn auf den Boden und sieht plötzlich viele Blumen auf einem Feld. Es läuft hinüber, legt den Ball hin, pflückt die Blumen und macht einen grossen Blumenstrauss. Mit dem Strauss in der Hand und dem Ball unter dem Arm geht es zufrieden nach Hause.’

 

Sequenzen mit CA:

 

Mädchen (00:03-00:06): Prellt den Ball auf den Boden

Mädchen (00:09-00:13): Pflückt die Blumen und macht einen Blumenstrauss. … den Ball unter dem Arm

 

Im letzten Satz von Beispiel (a) überlappen sich Erzähl- und Teilnehmenden-Perspektive. Das Senken der Hände beendet die Erzählung.

Konstruierte Aktion CA – Beispiel 2

 

(b) Erz: MANN  aPROD-kommen(Person)  TÜRTeiln(Mann)CA: SCHLÜSSEL  PROD-nehmen(Schlüssel aus Hosentasche)  PROD-stecken-drehen(Schlüssel) PROD-drücken(Türklinke) PROD-stecken(Schlüssel)  |  PROD-drehen(Schlüssel)  |  Erz: KLAPPT NICHT  | Teiln(Mann)CA: PROD-drehen(Schlüssel)  AH | Erz: IXa FALSCH  Teiln(Mann)CA: Geste-schauen-Schlüssel  |  Erz:bGEHENa   HOLEN  ANDERE  SCHLÜSSEL  ||  – 00:00-00:17

‘Ein Mann läuft zu einer Türe. Er zieht einen Schlüssel aus seinem Hosensack und will die Türe aufschliessen, sie lässt sich aber nicht öffnen. Er schaut sich den Schlüssel nochmals an und bemerkt, dass er den falschen Schlüssel in der Hand hält. Verärgert holt er einen anderen Schlüssel.’

 

Sequenzen mit CA:

 

Mann (00:04-00:08, 00:09-00:10): Zieht einen Schlüssel aus seinem Hosensack und steckt ihn ins Schlüsselloch. Dreht den Schlüssel und drückt die Türklinke mehrmals. Schaut sich den Schlüssel nochmals an.

 

Der Blick nach vorne weist auf die Erzähl-Perspektive, der abgewandte Blick auf die Teilnehmenden-Perspektive hin.

Konstruierte Aktion CA – Beispiel 3

 

(c) Erz: MUTTER  UND  SOHN  IXaKÜCHEa   BUB  PROD-sitzen(Bub)  HAUSAUFGABEN SCHREIBEN  ||  IX-3  MUTTERIX-3  Teiln(Mutter)CA: PROD-stellen(Topf)Erz: WASSER  Teiln(Mutter)CA:  PROD-öffnen(Wasserhahn)  PROD-laufen(Wasser)  |  Erz:  DANN SALZ  Teiln(Mutter)CA:  PROD-streuen(Salz)   PROD-stellen(Topf)  PROD-einstellen(Herd)  |  Erz:  MACHEN  SPAGHETTI  ||  – 00:00-00:18

 

‘Mutter und Sohn befinden sich in der Küche, der Sohn löst seine Hausaufgaben. Die Mutter lässt Wasser in die Pfanne laufen, fügt Salz hinzu, stellt den Herd an und meint: Es gibt Spaghetti.’

 

Sequenzen mit CA:

 

Frau (00:07-00:18): Lässt das Wasser in die Pfanne laufen, (fügt Salz hinzu) und stellt den Herd an.

Bevor ein Ereignis mittels CD wiedergegeben, also «rekonstruiert» werden kann, müssen aus einer Erzähl-Perspektive die Situation erläutert (Thema und Ort des Geschehens) und die Referent:innen – zum Beispiel ‘die Frau’ oder ‘der Junge’ – eingeführt und im Gebärdenraum mittels Index (Zeigefinger-Handform) verortet werden. Anschliessend wechselt die gebärdende Person in die Teilnehmenden-Perspektive und übernimmt die Rollen der verorteten Referent:innen:

(a) Erz: IX-3  BUB  Teiln(Bub)CD:  1FRAGENGeste-winken  ICH  NICHT-VERSTEHEN  || – 00:42-00:45

Direkt (Dialog)

(b) Erz: IX-3   FRAU  Teiln(Frau)CD: Geste-winken  MORGEN  KANN  2KOMMENa jn?  ||  00:45-00:49

Direkt (Dialog)

Sobald die gebärdende Person die Rolle des Jungen beziehungsweise der Frau übernimmt, bewegt sie ihren Oberköper auf die Seite, auf welcher der Junge beziehungsweise die Frau verortet wurde, dreht den Oberkörper aber auf die andere Seite zum/zur Gesprächspartner:in hin. In dieser Position folgt dann die Aussage oder die Frage.

 

Im Beispiel (b)/(d) ist der Blick nach rechts oben gerichtet, da der Junge sitzt, die Mutter steht. In Beispiel (a)/(c) ist der Blick der gebärdenden Person geradeaus auf die Person gegenüber gerichtet, da beide sitzen.

 

Der Bezug auf eine bereits verortete Referent:in kann nebst Indexierung (Zeigefinger-Handform) auch mittels Änderung der Oberkörperausrichtung und Blickrichtung geschehen:

 

– 00:56-00:59

Durch das Referenzieren ist stets klar, wer Subjekt und wer Objekt ist.

 

Folgende Beispiele und die anschliessenden Erklärungen dazu zeigen auf, wie der Rollenwechsel in einem konstruierten Dialog eingeleitet und realisiert wird bzw. woran er erkennbar ist.

(a) Erz: IXa_BÜRO   MANN  UND  FRAU  PROD-sitzen(gegenüber)  ARBEITEN  || (= Indirekt)

Erz: FRAU  IX-3

Direkt (Körperposition: Frau) (Oberkörperaus-/Blick nach leicht rechts)

Teiln(Frau)CD: Geste-winken MORGEN  KANN  IX-2   2KOMMENa    IX-2  ARBEITEN  jn?  ||

Erz: MANN   

Direkt (Körperposition: Mann) (Oberkörperausr./Blick nach leicht links)

Teiln(Mann)CD: NICHT++  KANN-NICHT  |  MORGEN  MUSS  ICH  POSS-1  TOCHTER  IXb  ZAHNARZT  ICH  BRINGENb   1BEGLEITEN| ICH  SPÄTER  ICH  bKOMMEN  ||

Direkt (Körperposition: Frau) (Oberkörperausr. /Blick leicht nach rechts)

Teiln(Frau)CD: Geste-ah WANN-ZEIT  w?  ||

Direkt (Körperposition: Mann) (Oberkörperausr. /Blick leicht nach links)

Teiln(Mann)CD: UNGEFÄHR 10-UHR ||

Direkt (Körperposition: Frau) (Oberkörperausr. /Blick leicht nach rechts)

Teiln(Frau)CD: OK  ||

‘In einem Büro sitzen sich ein Mann und eine Frau gegenüber. Sie sind am Arbeiten.

Die Frau fragt ihren Arbeitskollegen, ob er morgen zur Arbeit komme. Er antwortet, dass das nicht gehe, weil er seine Tochter zum Zahnarzt begleiten müsse, er komme später. Sie möchte wissen, wann er da sein werde. Er denke, so ungefähr um 10 Uhr.’

– 00:03-00:22

Sequenzen mit CD:

 

Frau (00:07-00:10): Kannst du morgen zur Arbeit kommen?

Mann (00:10-00:17): Nein, das geht nicht, ich muss meine Tochter zum Zahnarzt begleiten und werde erst später kommen.

Frau (00:17-00:18): Ach so, wann wirst du da sein?

Mann (00:18-00:20): Ungefähr um 10 Uhr.

Frau (00:20-00:21): Ah, in Ordnung.

 

Um die beiden Referent:innen zu unterscheiden, werden sie unterschiedlich gekennzeichnet durch Oberkörperausrichtung, Blickrichtung, Kopfstellung und Mimik. Bei der Darstellung der Frau in Beispiel (a) richtet die gebärdende Person ihren Oberkörper leicht nach links, dreht sich und blickt nach rechts zum fiktiven Arbeitskollegen. Um die Rolle des Mannes zu übernehmen, richtet sie ihren Oberkörper leicht nach rechts, dreht sich und blickt nach links zu seiner Arbeitskollegin. In jeder Rolle «spricht» sie den/die jeweilige Gesprächspartner:in direkt an, als würde das Gespräch gerade jetzt stattfinden. Jeder Rollenwechsel entspricht einem Turn / «Sprecherwechsel».

(Hinweis: Die angegebenen Richtungen sind immer aus Sicht der gebärdenden Person beschrieben.)

(b) Erz: MAMA  UND  SOHN   3aBEIDE3b  IXKÜCHE   ||  BUB  IX-3  PROD-sitzen(Bub)  HAUSAUFGABEN  SCHREIBEN  ||

Direkt (Körperposition: Bub) (Oberkörperausr./Blick leicht nach rechts)

Erz: DANN  IX-3 3SAGEN2 (du)       

Teiln(Bub)CD: 1SAGEN2   MAMA  1SAGEN2   ICH  NICHT  VERSTEHEN  IXa(Hausaufgaben) BITTE  2ERKLÄREN1   ||

Erz: MAMA

Direkt (Körperposition: Mama) (Oberkörperausr./Blick leicht nach links)

Teiln(Mama)CD: KLAR  ICH  1KOMMEN2   1ERKLÄREN2  ||

‘Mutter und Sohn sind in der Küche. Der Junge sitzt am Tisch und macht Hausaufgaben. Er sagt seiner Mutter, dass er etwas nicht verstehe und ob sie ihm helfen könne. Sie antwortet, dass sie ihm dies selbstverständlich gleich erklären werde.’

– 00:00-00:18

Sequenzen mit CD:

 

Sohn (00:10-00:14): Ich verstehe das nicht, kannst du mir helfen?

Mutter (00:14-00:17): Ja natürlich, ich erkläre es dir gleich.

 

Der sitzende Sohn in Beispiel (b) wird mit Oberkörperposition links, Drehung des Oberkörpers und Blick nach rechts oben (zu seiner stehenden Mutter) dargestellt. Die Mutter entsprechend mit Oberkörperposition rechts, Drehung des Oberkörpers und Blick nach links unten (zu ihrem sitzenden Sohn). Bei jedem Turn / «Sprecherwechsel nimmt die gebärdende Person einen Rollenwechsel vor.

(Hinweis: Die angegebenen Richtungen sind immer aus Sicht der gebärdenden Person beschrieben.)

Die Begriffe Rollenwechsel und Rollenübernahme bedeuten, dass die gebärdende Person sozusagen in die Haut der Menschen und/oder Tiere und/oder Objekte, von denen sie erzählt, schlüpft und zwischen den entsprechenden Rollen wechselt. Bei einer indirekten Wiedergabe, der Erzähl-Perspektive, ist das nicht der Fall.

Vor der Rollenübernahme – sei es im konstruierten Dialog oder in der konstruierten Aktion – müssen die einzelnen Referent:innen eingeführt und im Raum verortet werden, so dass anschliessend auf sie referenziert werden kann (siehe Kapitel 2). Diese Einführung geschieht in der Erzähl-Perspektive. Nach einer Sequenz mit Rollenwechsel folgt wieder eine Sequenz in der Erzähl-Perspektive. Beide Perspektiven wechseln sich also ab.

Gedanken, Emotionen, Aussagen und Gespräche können in jeder Sprache aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben werden: Aus einer distanzierten oder einer direkten Perspektive. In gesprochenen (und geschriebenen) Sprachen werden die beiden Perspektiven als indirekte und direkte Rede bezeichnet. Ähnlich funktioniert dies in Gebärdensprachen: Sie unterscheiden zwischen Erzähl-Perspektive und Teilnehmenden-Perspektive.

Durch die direkte Rede entsteht der Eindruck, dass Aussagen, Gespräche usw. unvermittelt und szenisch wiedergegeben werden.

Die DSGS benutzt, wie die meisten Gebärdensprachen, häufig diese Teilnehmenden-Perspektive. Realisiert wird sie durch den sogenannten Rollenwechsel.

Im Unterschied zu gesprochenen (und geschriebenen) Sprachen können in Gebärdensprachen auch Handlungen, also nicht-verbale Aspekte eines Ereignisses, aus einer direkten, aus der Teilnehmenden Perspektive dargestellt werden: Die gebärdende Person kann die Handlung oder (Fort-)Bewegung einer Person oder eines Tieres sowie die Funktionsweise eines Objektes auf diese Art und Weise wiedergeben beziehungsweise imitieren. In Gebärdensprache gibt es also den konstruierten Dialog (constructed dialog, CD) und die konstruierte Handlung (constructed action, CA), wobei sich beide Techniken überlappen können. Der Begriff «konstruiert» verweist darauf, dass eine Äusserung oder eine Handlung für die aktuellen Adressat:innen rekonstruiert wird.

Der Blick der gebärdenden Person ist bei der Teilnehmenden-Perspektive nicht auf die Adressat:innen gerichtet und das ICH repräsentiert immer diejenige/n Referent:innen, deren Rolle die gebärdende Person gerade übernimmt. In der Erzähl-Perspektive bezieht sich das ICH immer auf die gebärdende Person selbst, ihr Blick richtet sich in der Regel auf die Adressat:innen.

 

Hinweise auf einen Rollenwechsel sind u.a. die Wiedergabe der tatsächlichen physischen Positionen, der hierarchischen Verhältnisse und der räumlichen Perspektiven.

Da Rechtshändigkeit überwiegt, wird auch mehrheitlich die rechte Hand als dominante Hand beim Gebärden benutzt. Rechtsdominante Personen führen Zeitangaben auf der Zeitlinie B von links nach rechts aus. So beginnt eine Woche immer links, der Montag wird ganz links, der Freitag ganz rechts auf der Zeitlinie platziert.

 

Linksdominante Personen dürfen dies spiegelverkehrt darstellen, den Montag also ganz rechts, den Freitag ganz links auf der Zeitlinie platzieren.

Ebenso verfahren sie bei der Darstellung der Urzeit, indem sie beispielsweise den Vormittag mit der linken, dominanten Hand spiegelverkehrt darstellen.

Linksdominante Personen

Rechtsdominante Personen

Vereinzelt verwenden linksdominante Personen jedoch auch die rechte Hand für Zeitangaben.

Die drei Handformen sind auf den unterschiedlichen Zeitlinien beliebig kombinierbar. Zum Beispiel kann die – Handform vor dem Körper platziert werden (nichtdominante Hand). Anschliessend wird von dieser aus mit der dominanten Hand (3 Handformen) auf der Zeitlinie nach links oder nach rechts gefahren.

Der gesamte Unterarm der nichtdominanten Hand steht hier stellvertretend für die Zeitlinie.

 

– 00:17–00:26

Ob es sich um eine bestimmte oder mehr oder weniger offene Zeitangabe handelt, kann auch mit nicht-manuellen Komponenten ausgedrückt werden.

Folgende Mundform drückt eine bestimmte Zeitangabe aus (diese!) (siehe Kapitel 2):

Eine ungefähre Zeitangabe erfordert eine andere Mundform:

Kann keine Zeitangabe gemacht werden, wird dies folgendermassen dargestellt (zwei Möglichkeiten):

Die Bewegung des Kopfes und des Oberkörpers liefern zusätzliche Informationen. Durch ein ein- oder zweimaliges Kopfnicken wird eine Zeitangabe bestätigt, durch Kopfschütteln verneint. Wird der Kopf nach vorne geneigt, mit einer spezifischen Mimik und mit Kopfnicken begleitet, so wird damit die Frage nach einer Zeitangabe ausgedrückt.

 

Folgende Beispiele veranschaulichen das Erklärte:

 

Bestätigung einer Zeitangabe:

‘Am 12. August’ wird gebärdet und dazu wird bestätigend mit dem Kopf genickt. – 00:49-00:54

 

Verneinung einer Zeitangabe:

‘Am 12. August’ wird gebärdet und der Kopf wird gleichzeitig hin- und her geschüttelt. – 00:56-00:58

 

Frage nach einer Zeitangabe:

Der Kopf wird nach vorne geneigt, es wird gebärdet ‘12. August’, begleitet mit Frage-Mimik und es wird genickt. – 01:00-01:03

Die drei erläuterten Handformen zeigen an, ob es sich um eine bestimmte oder mehr oder weniger offene Zeitangabe handelt. Die Art und Weise der zeitgleich ausgeführten Bewegung kann dies zusätzlich verdeutlichen.

 

Genau bestimmter Zeitpunkt:

Eine einmalige Ausführung der Zeigefinger – oder der B-Handform – auf einer Zeitlinie bzw. kombiniert mit einer anderen Raum-Zeit-Technik – steht für einen bestimmten Zeitpunkt.

 

– 00:31-00:36

 

Genau bestimmter Zeitpunkt betont:

Eine zweimalige Ausführung der Zeigefinger- oder der B-Handform betont dies noch stärker.

 

– 00:54-00:57

 

Genau bestimmte Zeitdauer:

Eine einmalige Bewegung der Zeigefinger- oder der B-Handform auf der Zeitlinie B von links nach rechts drückt eine Zeitdauer mit klar festgelegtem Anfang und Ende aus. Für die gebeugte L-Handform gibt es diese Möglichkeit nicht.

 

– 01:10-01:13

– 01:16-01:17

 

Zeitdauer ohne genau bestimmten Anfang und ohne genau bestimmtes Ende:

Eine Hin- und Herbewegung bzw. eine Vor- und Rückwärtsbewegung der Zeigefinger-, der B- oder der gebeugten L-Handform drückt aus, dass es sich dabei um eine Zeitdauer handelt, deren Anfang und Ende nicht klar definiert sind.

 

– 01:28-01:32

– 01:41-01:44

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